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Die Vorliebe wiederum, sich auf harter Unterlage auszustrecken, war ihm schon seit<br />
frühester Jugend eigen. Damals hatte Grin (so nannten ihn die Genossen, seinen<br />
wirklichen<br />
Namen wußte heute keiner mehr) Askese betrieben und sich all dessen entwöhnt,<br />
was er<br />
für »Luxus« hielt, worunter neben schlechten Gewohnheiten auch solche fielen, die man<br />
nicht zwingend zum Überleben brauchte.<br />
Aus dem Nachbarzimmer<br />
drangen gedämpfte Stimmen -die Mitglieder der Kampfgruppe<br />
diskutierten<br />
erregt die Einzelheiten der erfolgreich zum Abschluß gebrachten Aktion.<br />
Manchmal hob Stieglitz im Überschwang die Stimme<br />
und wurde von den beiden anderen<br />
sogleich niedergezischt. Sie glaubten, Grin schliefe. Doch er schlief nicht. Er ruhte. Zählte<br />
den Pulsschlag seines Herzens und dachte daran, wie der Alte sich im Angesicht des Todes<br />
in sein Handgelenk verkrallt hatte. Seine Haut hatte den Griff der trockenen, heißen Finger<br />
noch nicht vergessen. Das schmälerte die Genugtuung über die sauber und präzise<br />
ausgeführte Aktion, die erfüllte Pflicht - und andere Wohlgefühle leistete der grauäugige<br />
Mann sich ohnehin nicht.<br />
Grin wußte, daß sein Spitzname wie englisch: »grün« klang, aber das war nicht die Farbe,<br />
die er als die seine empfand. Daß alles auf Erden einen eigenen Farbton besitzt, jedes Ding,<br />
jeder Begriff, jeder Mensch - das hatte Grin schon als Kind gespürt, darin war er besonders.<br />
Das Wort Semlja (Erde) zum Beispiel war lehmgelb, das Wort Jabloko (Apfel) zartrosa,<br />
selbst wenn es sich auf einen gelben Winterapfel bezog, das Wort für Imperium war<br />
weinrot, für Mutter himbeerrot, Vater ein sattes Violett. Sogar die einzelnen Buchstaben im<br />
25<br />
Alphabet<br />
hatten ihre Farben: das A war purpurn, das B zitronengelb, das W gleichfalls gelb,<br />
doch fahler. Grin hatte nie dahinterzukommen versucht, warum ein Ding, eine<br />
Erschei-<br />
nung, ein Mensch in Gehalt und Stimmung just so und nicht anders gefärbt waren,<br />
er nahm<br />
dieses Wissen als gegeben hin, und es trügte ihn selten - bei Menschen am allerwenigsten.<br />
Dazu mußte man wissen, daß auf Grins angeborener Farbskala jede Farbe auch noch ihre<br />
verborgene Bedeutung hatte. Blau verhieß Zweifel und Unsicherheit, Weiß Frohsinn,<br />
Rot<br />
Bekümmernis, wodurch die russische Flagge eine seltsame Melange ergab: froh und traurig<br />
in einem, und beides gleichermaßen zweifelhaft. Tauchte ein neues Gesicht auf und<br />
schimmerte blau, dann ließ Grin zwar nicht gleich sein Mißtrauen erkennen, begegnete ihm<br />
jedoch mit besonderer Vorsicht. Und da war noch etwas: Menschen waren die einzigen, die<br />
ihre Farbe mit der Zeit wechseln konnten - durch eigenes Zutun, durch veränderte<br />
Umgebung oder einfach, indem sie älter wurden.<br />
Grin selbst war früher einmal lasurblau gewesen - weich, warm und formlos. Dann hatte er<br />
sich zu ändern beschlossen, der lichte Azurton schwand, ward allmählich verdrängt durch<br />
ein strenges, klares Aschgrau. Auch dessen blaue Anteile zogen sich später zurück,<br />
vermochten allenfalls noch einen Schimmer zu erzeugen, Grin wurde hellgrau. Es war die<br />
Farbe von Damaszener Stahl - hart, federnd, kalt und nichtrostend.<br />
Die Verwandlung hatte mit sechzehn begonnen. Zuvor war er ein Gymnasiast wie jeder<br />
andere gewesen, hatte Nekrassow und Lermontow deklamiert, Landschaften aquarelliert<br />
und sich öfters verliebt. Das heißt, natürlich hatte er sich schon damals von seinen<br />
Mitschülern unterschieden - und sei es<br />
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nur dadurch, daß die anderen Russen waren und er nicht. In der Klasse wurde er deswegen<br />
nicht gehänselt, nicht als »Jidd« beschimpft, denn schon damals ließ sich ihm, dem später<br />
einmal<br />
stählernen<br />
Mann, die Konzentration, die stille, uneitle Kraft anmerken - Freunde