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nicht. Es geht nicht ums Verzeihen. Jeder hat seine Grenzen. Und der Sache dienen kann<br />
man genausogut mit einem Auge. Oder ganz ohne.«<br />
»Ich hätte bestimmt auch nicht durchgehalten«, sagte<br />
Nadel. »Bei mir hatten sie mit der<br />
Folter noch gar nicht richtig angefangen.«<br />
»Sie hätten durchgehalten«, widersprach Grin und wandte sich nach Stieglitz um. »Du<br />
bringst ihn ins Krankenhaus. Explosion im Privatlaboratorium«, instruierte er ihn. »Er<br />
ist<br />
Chemiker.<br />
Du lieferst ihn ab und verziehst dich wieder.«<br />
»Und was ist mit denen?« fragte Stieglitz, auf die Leichen deutend.<br />
»Das mache ich.«<br />
Als Grin mit Nadel allein war, versorgte er ihr Gesicht. Im Badezimmer (wo es übel aussah:<br />
überall Blut, Pfützen von Erbrochenem) hatte er ein Fläschchen Spiritus und Watte ge-<br />
funden. Er wusch die Schrammen aus, tupfte die Blutergüsse ab.<br />
Den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen, saß Nadel da. Als Grin ihr mit den Fingern<br />
sachte die Lippen auseinanderschob,<br />
öffnete sie gehorsam den Mund. Vorsichtig rührte er<br />
an den Vorderzähnen, die sehr weiß und gerade waren. Der rechte Schneidezahn wackelte,<br />
aber nicht sehr. Er würde wieder einwachsen.<br />
Unterhalb des Schlüsselbeins entdeckte Grin noch einen Bluterguß. Er knöpfte das lädierte<br />
Kleid weiter auf, drückte sanft auf den Knochen, der von dünner, zarter Haut überspannt<br />
war. Er schien heil.<br />
Plötzlich schlug Nadel die Augen auf. Ihn traf ein verwirrter, gar ein wenig erschrockener<br />
Blick. Etwas schnürte<br />
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Grin die Kehle<br />
zu, er vergaß, die Hand von ihrer entblößten Brust zu nehmen.<br />
»Sie haben da ein paar Kratzer«, sagte sie trocken.<br />
Unwillkürlich ging Grins Hand an seine zerschrammte<br />
Wange, ein Andenken an das<br />
Mißgeschick im Badehaus.<br />
»Ich bin ganz zerschunden«, sagte sie. »Muß ein schauderhafter Anblick sein. Als ob ich<br />
nicht schon häßlich genug wäre. Schauen Sie doch nicht so!«<br />
Grin blinzelte entschuldigend, doch er konnte nicht wegsehen.<br />
Von Häßlichkeit keine<br />
Spur,<br />
auch wenn der Bluterguß an ihrem Jochbein immer stärker hervortrat. Seltsam, daß<br />
dieses Gesicht ihm einmal leblos und vertrocknet erschienen war. Es war so voller<br />
Leben,<br />
voller Gefühl ... Was Nadels Farbe anging, bemerkte er jetzt seinen Irrtum: Es war kein<br />
kaltes Grau, sondern ein warmes, mit einem Hauch von Perlmutt. Auch ihre Augen hatten<br />
diesen Perlenglanz - und sie besaßen die erschreckende Fähigkeit, etwas aus Grins<br />
Gemüt<br />
an die Oberfläche zu ziehen, was längst vergessen<br />
und unwiderruflich verblichen schien:<br />
ein Lasurblau.<br />
Seinen Fingern, die immer noch an ihrer Haut lagen, wurde auf einmal sehr heiß. Er wollte<br />
sie wegziehen und konnte es nicht. Statt dessen legte Nadel ihre Hand darauf. Von der<br />
Berührung zuckten sie beide zusammen.<br />
»Das geht nicht... Ich hab ein Gelübde abgelegt... Das ist doch zwecklos ... Geht gleich<br />
vorüber ...«, murmelte sie wirr.<br />
»Das meine ich<br />
auch ... Es führt zu nichts ...«, stimmte er mit Inbrunst zu.<br />
Und beugte sich im nächsten Moment ruckartig vornüber, saugte sich an ihren<br />
geschwollenen Lippen fest. Sie schmeckten ein wenig nach Blut.<br />
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