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Der Umzug in ein neues Quartier erwies sich als schwierig. Die Polizeispitzel<br />
durchkämmten die Stadt mittlerweile so gründlich, daß bereits der Versuch,<br />
Sympathisanten um Hilfe anzusprechen, eine große Gefahr bedeutete: Man durfte bei<br />
keinem sicher sein, daß er nicht beschattet wurde.<br />
Sie beschlossen, im Quartier Woronzowo pole zu bleiben. Zumal noch eine Überlegung<br />
dafür sprach: Wenn dieser T. G. so gut über die Pläne der Gendarmen Bescheid wußte,<br />
warum sollte man ihm den Kontakt zur Gruppe unnötig erschweren? Wer immer hinter<br />
dem geheimnisvollen Korrespondenten steckte und was für Ziele er verfolgte - er war ein<br />
Verbündeter, wie er wertvoller kaum sein konnte.<br />
Die Aktion am gestrigen Abend im Badehaus Petrossow war in die Hose gegangen.<br />
Splint<br />
war tot, der Polizeivizedirektor hatte ihn über den Haufen geschossen. Ein herber Verlust.<br />
Und dieser übernatürlich wendige Herr war ihnen aufs neue entwischt, obwohl Grin<br />
persönlich die Jagd auf ihn angeführt hatte. Auch mit Staatsrat Fandorin war nicht korrekt<br />
verfahren worden: Schwarz und Nobel hätten in den Hof hinunterlaufen und ihn erledigen<br />
müssen. Der tiefe Schnee hatte den Aufprall womöglich gedämpft. Gut möglich, daß der<br />
Sonderbeauftragte mit einem<br />
blauen Auge - gebrochenem Bein, geprellter Niere und so<br />
weiter - davongekommen war.<br />
305<br />
Gestern abend, als die Kampfgruppe (verstärkt um einige<br />
Moskauer, die sich beim Überfall<br />
auf den Geldtransport bewährt hatten) die letzten Vorbereitungen für die Aktion im<br />
Badehaus traf, war Nadel gekommen und hatte die von Aron-son<br />
gefertigten Chemikalien<br />
und die Zünder gebracht.<br />
Also hatte Grin das Kabinett heute in ein Laboratorium<br />
verwandelt und kümmerte sich um die<br />
Auffüllung des Waffenarsenals. Eine<br />
Petroleumlampe baute er zum Schmelztiegel für das Paraffin um, als Mörser für die<br />
Pikrinsäure mußte eine Kaffeemühle<br />
herhalten und als Retorte eine alte Olivenölflasche,<br />
während der Samowar einen brauchbaren Destillator abgab. Stieglitz bastelte unterdessen<br />
die Hülsen und füllte sie mit Schrauben.<br />
Die anderen hatten frei. Jemelja las immer noch in seinem Monte Christo, kam nur ab und zu<br />
einmal hereingeschneit,<br />
um seinen Emotionen bezüglich des Gelesenen Luft zu machen.<br />
Die Neuzugänge - Marat, Biber, Schwarz und Nobel -hätten Grin sowieso wenig nützen<br />
können. Sie saßen um den Küchentisch und spielten Karten. Sie spielten um nichts,<br />
höchstens um Kopfnüsse, dies jedoch mit Leidenschaft. Es gab<br />
viel Lärm, Gelächter und<br />
Gebrüll. Warum auch nicht. Junge Männer, Frohnaturen, sollten sie ihren Spaß haben.<br />
Sprengstoff herzustellen verlangte Fingerspitzengefühl und stundenlang höchste<br />
Konzentration. Eine falsche Bewegung, und das Quartier wäre in die Luft geflogen.<br />
Gegen drei Uhr nachmittags, die ungefähre Hälfte der Arbeit war getan, klingelte das<br />
Telefon.<br />
Grin nahm ab und wartete,<br />
daß gesprochen wurde.<br />
Es war Nadel.<br />
»Der Privatdozent ist erkrankt«, sprach sie besorgt. »Das ist sehr seltsam. Als ich von Ihnen<br />
zurückkam, schaute ich sicherheitshalber durchs Fernglas auf seine Fenster, nicht daß seine<br />
Chemikalienspende irgendwem aufgefallen ist, und da waren die Vorhänge plötzlich<br />
zugezogen ... Hallo?« unterbrach sie sich, beunruhigt durch Grins anhaltendes Schweigen.<br />
»Sind Sie dran, Herr Sievers?«<br />
»Ja«, antwortete er ruhig. Ihm war eingefallen, was zugezogene Vorhänge zu bedeuten<br />
hatten: Schiffbruch. »Heute morgen schon?<br />
Wieso haben Sie nicht früher angerufen?«