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Der Sonderbeauftragte rannte auf das Dach hinaus. Von der eisigen Luft stockte ihm der<br />

Atem. Doch die Kälte war nicht das Ärgste, nein. Ein flüchtiger Blick genügte, um zu<br />

begreifen: Von hier war kein Entkommen mehr.<br />

Fandorin lief nach vorn zur einen Dachkante, sah tief unter sich die Lichter der Straße,<br />

Menschen, Equipagen.<br />

Er rannte zur anderen Seite. Dort unten lag ein verschneiter Hof.<br />

Zu weiteren Erkundungsgängen blieb keine Zeit. Aus dem Dunkel der Bodenkammer<br />

lösten sich drei Schatten und rückten langsam auf den hilflos ausgelieferten, reglos am<br />

Rande des Abgrunds stehenden Mann zu.<br />

»Rennen können Sie schnell«, sprach ihn einer noch aus der Entfernung an, das Gesicht<br />

war nicht zu erkennen. »Jetzt wollen wir sehen, ob Sie auch fliegen können.«<br />

Fandorin kehrte den Schatten den Rücken zu. Sie anzusehen war so unnütz wie<br />

unangenehm. Er blickte nach unten.<br />

147<br />

Fliegen?<br />

Er sah unter sich die nackte, fensterlose Mauer, den Schnee. Wäre wenigstens ein Baum<br />

gewesen - man hätte springen und versuchen können, Aste zu fassen zu kriegen.<br />

Fliegen?<br />

Als Gipfel der Meisterschaft galt im Clan der Ninja-Krieger, bei denen Fandorin die Kunst<br />

der Beherrschung von Geist und Körper studiert hatte, ein Trick, den man den Habichtflug<br />

nannte. Mehrfach hatte Fandorin Gelegenheit gehabt, die Zeichnungen in den alten<br />

Handschriften zu betrachten, auf denen die Technik dieses unglaublichen Kunststücks<br />

umfassend und bis in alle Einzelheiten dargestellt war. In jenen Zeiten, als die<br />

Fürstentümer im Land der aufgehenden Sonne einen Jahrhunderte währenden Krieg gegeneinander<br />

führten, standen die Ninjas im Ruf unübertrefflicher Kundschafter. An<br />

senkrechten Mauern emporzuklettern, in eine belagerte Festung einzusteigen und dort<br />

die<br />

Wehranlagen auszuspionieren war für sie ein leichtes. Schwieriger konnte es sein, mit dem<br />

wertvollen Wissen zurückzugelangen. Die Zeit, eine Strickleiter oder auch nur eine Seidenschnur<br />

hinabzulassen, war einem Kundschafter nicht immer vergönnt. Für diesen<br />

Zweck nun war der Habichtflug gedacht.<br />

Und so stand es geschrieben: »Springe ohne Schwung, ruhig und gerade, der Abstand<br />

zwischen dir und der Wand betrage zwei Fuß, nicht mehr und nicht weniger. Halte den<br />

Körper in ideal senkrechter Linie. Zähle bis fünf, dann stoße dich heftig mit den Füßen von<br />

der Wand ab, drehe einmal in der Luft und lande, nicht ohne den Namen des heiligen<br />

Buddha Amida rezitiert zu haben.«<br />

Es hieß, die alten Meister hätten den Habichtflug von<br />

301<br />

einhundert Shaku* hohen Mauern vollzogen, was Fandorin kaum glauben konnte. Beim<br />

Zählen bis fünf legt der menschliche Körper nicht mehr als zehn, zwölf Meter zurück.<br />

Der<br />

sich anschließende Überschlag mochte die Härte der Landung zwar mildern,<br />

doch die<br />

Chancen, aus einer Höhe von über fünfzehn Metern heil unten anzukommen,<br />

standen<br />

selbst bei größtem Geschick und besonderer<br />

Gewogenheit des Buddha Amida nicht gut.<br />

Es war dies jedoch für skeptische Betrachtungen der ungeeignete Moment. Von hinten<br />

näherten sich bedächtige Schritte - zur Eile sahen die Herren Nihilisten wohl keinen Grund<br />

mehr.

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