Ulrich Roehm - Fördervereins Tanzkunst Deutschland
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»Egon-Wüst-Ballett« umbenennen (nach dem Manager und<br />
Ersten Solisten der Truppe), weil der Name der Gründerin<br />
zu Russisch klang; auch der »Ungarische Tanz« wurde beim<br />
Gastspiel in Rumänien kurzerhand aus dem Programm genommen,<br />
um keine Angriffsfläche zu bieten. Gern genommen<br />
wurden dagegen italienisch klingende Künstlernamen,<br />
und so mutierte Müller umgehend zu Mulinari.<br />
Auf eine Tournee durch Polen folgten 1941 KdF-Engagements,<br />
also Auftritte im Rahmen des nationalsozialistischen<br />
Kulturprogramms »Kraft durch Freude«. Diese Vorstellungen<br />
fanden manchmal in gut ausgestatteten Theatern statt, mitunter<br />
aber auch auf losen Brettern, die notdürftig über Fässer<br />
gelegt waren und von denen bei den Spitzentanzsequenzen<br />
konkrete Verletzungsgefahr ausging. Mit der Einberufung zur<br />
Wehrmacht des Managers Egon Wüst blieben weitere Engagements<br />
aus, und nach dreimonatiger Tanz- und Tatenlosigkeit<br />
wechselte Inge Stoffers zum Kammerballett Erwin Hoffmann –<br />
was Tatjana Gsovsky ihr verübelte. Auf einer sechswöchigen<br />
Tournee durch <strong>Deutschland</strong>, Frankreich und Belgien erlebte<br />
sie Unfälle durch Abstürze aufgrund morschen Untergrunds<br />
und andere Abenteuer wie ungeheizte Zimmer, fehlende Orchester,<br />
abschüssige Bühnenböden und marode Busse. Einen<br />
Höhepunkt bildete das Gastspiel in Paris, der »Stadt unserer<br />
Sehnsucht«, wie sie Inge Stoffers nannte; dort besuchte sie<br />
auch die Opéra: »Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ein<br />
richtiges Ballett. In <strong>Deutschland</strong> gab es das nicht. Ich hatte nie<br />
ein richtiges Ballett auf der Bühne gesehen!« (S. 72)<br />
1942 macht sich Inge Stoffers selbständig, im Berliner<br />
Kabarett der Komiker wird sie als Solistin engagiert; das bedeutete<br />
nicht selten zwei Shows am Tag, an Wochenenden<br />
manchmal auch drei. Im nächsten Jahr wirkte sie beim frisch<br />
gegründeten Filmballett mit, das auf Anregung von Propagandaminister<br />
Goebbels gegründet wurde. Im August 1944<br />
wird auch diese Truppe aufgelöst, die Theater geschlossen.<br />
Inge Stoffers wird zur Arbeit in der Rüstungsindustrie eingeteilt.<br />
Als auch dieser Betrieb bombardiert wird, schaffen es<br />
Inge und ihre Mutter quasi in letzter Minute, aus Berlin zu<br />
fliehen: Eine Odyssee Richtung Westen über Hamburg nach<br />
Schleswig-Holstein endet schließlich in Flensburg. Nach der<br />
Kapitulation gelang es ihr dort, ab Juli 1945 im Rahmen der<br />
Army Welfare Services, der Truppenbetreuung der Engländer,<br />
in »Officers Clubs« als Tänzerin aufzutreten, dort erhielt sie<br />
eine kleine Gage und Essen, das ihr und ihrer Mutter das<br />
Überleben sicherte. Über diese Kontakte ergaben sich bald<br />
auch Tourneen durch Norddeutschland, gemeinsam mit ihrem<br />
Tanzpartner Kurt Paudler, einem Mary Wigman-Schüler.<br />
Auf einer dieser Gastspiele entdeckte Inge Stoffers einen<br />
Kleiderschrank voller Zigaretten – Zigaretten waren DIE Währung<br />
der Nachkriegszeit. Es gelang ihr, das Zahlungsmittel<br />
mithilfe ihrer Mutter aus dem Hotel zu schmuggeln und nach<br />
Wilhelmshaven zu transportieren; ins dortige Haus der Großmutter<br />
hatten beide inzwischen Zuflucht genommen. »Mit<br />
diesen ‚organisierten‘ Zigaretten haben wir später unser Studio<br />
aufgebaut. Für Zigaretten bekam man alles. Wir tauschten<br />
dafür unter anderem Sand und Steine und konnten die<br />
Handwerker auch noch mit Essen versorgen. Es waren wirklich<br />
so viele Zigaretten, dass man alles davon finanzieren<br />
konnte.« (S. 106)<br />
Inge Stoffers ist 90<br />
Nach dem extrem strengen Winter 1945/46 entstand<br />
im Laufe des Jahres 1946 in <strong>Deutschland</strong> wieder so etwas<br />
wie ein bescheidenes kulturelles Leben. Im Wilhelmshavener<br />
Werftspeisehaus fanden erste Tanzaufführungen statt; auch<br />
ein Training konnte vormittags organisiert werden, und am<br />
Nachmittag unterrichtete Inge Stoffers mitunter junge Schülerinnen<br />
dort. Das brachte sie auf die Idee, selbst eine Ballettschule<br />
zu eröffnen. Einen Raum fand sie in der Ballettschule<br />
Klemmsen, in der sie selbst viele Jahre Unterricht genommen<br />
hatte. »Frau Klemmsen hatte ja immer im Stillen gehofft, dass<br />
ich eines Tages ihren Sohn heiraten würde. Dieser Wunsch<br />
erfüllte sich zwar nicht, aber ich hatte ein freundschaftliches<br />
Verhältnis zu ihm.« (S. 115) Und so konnte sie einen kleinen<br />
Raum in der vertrauten Schule nutzen und mit Ballettunterricht<br />
beginnen: Die Ein-Raum-Ballettschule war gegründet!<br />
Am 2. Januar 1947 fand ein erstes Treffen statt, zuvor hatte<br />
Inge Stoffers eine Anzeige aufgegeben. »Wir trainierten zunächst<br />
mit Stühlen, die in den Raum gestellt wurden. Später<br />
wurde eine Stange angebracht. Weil wir in den ersten Tagen<br />
keine Musikbegleitung hatten, sang ich zu den Übungen,<br />
Drei Schülerinnen der Ballettschule Stoffers, die eine professionelle Laufbahn<br />
einschlugen, v.l. Katja Lim, Siggi Zilm, Birgit Gabriel<br />
aber dann mietete ich ein Klavier.« (S. 116) Jede Schülerin<br />
musste ein Stück Heizmaterial zum Unterricht mitbringen.<br />
Im schlechtesten Fall brachten sie schneenassen Torf mit.<br />
Um den Kanonenofen im Tanzraum zu befeuern, musste in<br />
Rauch und Qualm getanzt werden. Auch Trainingskleidung<br />
war so gut wie nicht aufzutreiben, von richtigem Schuhwerk<br />
ganz zu schweigen.<br />
Inge Stoffers allererste Schülerin war 33 Jahre alt und wollte<br />
ausschließlich in Stepptanz unterrichtet werden. Kurze Zeit<br />
später kamen jüngere Schüler, bald darauf auch Kinder zum<br />
Ballettunterricht. Schon ein Jahr nach Schulgründung organisierte<br />
sie erste Aufführungen, erwartungsgemäß reichte der<br />
kleine Unterrichtsraum bald nicht mehr aus. Das Haus der<br />
Tanzschule Klemmsen bot eine geeignete Alternative: Ballettsaal<br />
und Wohnung entstanden dort unter einem Dach – und<br />
dieser Dachausbau wurde mit den gefundenen Zigaretten<br />
aus dem Hotelzimmerschrank beglichen. Die Schule expandierte,<br />
und bald schon gehörten Proben und Aufführungen –<br />
sowohl der Schülerinnen als auch der Schulleiterin – zum regelmäßigen<br />
Stundenplan.<br />
Ballett Intern 5/2012 19