PUA - Prof. Dr. med. Andreas Zieger
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3. Empirie – Teil II<br />
Lebensgemeinschaft, in der es einen 18jährigen Sohn gibt. Folglich wohnt W.D. gegenwärtig zusammen<br />
mit seiner Ehefrau in einem für ältere Paare gewöhnlichen Zweipersonenhaushalt. In diesem Haushalt<br />
hat W.D. seiner Ehefrau nach eigenen Schilderungen viele Aufgaben abgenommen und begründet dies<br />
vor allem mit der Herzerkrankung seiner Partnerin. Zusätzlich kann vermutet werden, dass er durch die<br />
Übernahme der häuslichen Aufgaben seiner Ehefrau eine sinnstiftende Erfüllung sowie eine<br />
Tagesstrukturierung seines Ruhestandes erhielt. Daraus resultierte für die Ehefrau möglicherweise ein<br />
Verzicht auf ihre unabhängig und selbstständig gestaltbaren Bereiche innerhalb des Haushaltes, was<br />
wiederum zu einer Unselbstständigkeit ihrerseits und damit zu einer Abhängigkeit von W.D. beigetragen<br />
haben könnte. Bestätigt werden diese Annahmen durch die Tatsache, dass W.D. die Übernahme der<br />
Aufgaben seiner Ehefrau nach seinem Schlaganfall bedauert. Höchstwahrscheinlich befürchtet er, dass<br />
nun weder seine Ehefrau, noch er die anfallenden Aufgaben im Haushalt bewältigen können.<br />
Diese Ängste werden dem Anschein nach dadurch verstärkt, dass seine Tochter aufgrund ihres entfernten<br />
Wohnortes, keine alltägliche und persönliche Unterstützung ihrer Eltern leisten kann. Dabei ist die<br />
Entfernung der Tochter von ihrem ursprünglichen Sozialraum höchstwahrscheinlich auf die Entwicklungen<br />
der Pluralisierung sowie Individualisierung in unserer Gesellschaft zurückzuführen und durch<br />
sozioökonomische Faktoren des Arbeitsmarktes bedingt. Diese Faktoren scheinen zur Notwendigkeit der<br />
Flexibilisierung beizutragen und bestimmen dadurch die Familienbeziehungen von W.D. zwischen der<br />
Eltern- und der Kindergeneration. Insgesamt kann aus der räumlichen Trennung zwischen W.D. und seiner<br />
Tochter ein Defiziten in der Erfüllung der gegenseitigen Fürsorge als eine gesellschaftliche Funktion der<br />
Familie abgeleitet werden, was möglicherweise gleichsam zu Mängeln in der gesellschaftlichen<br />
Familienfunktion der Befriedigung von Bedürfnissen nach Liebe und emotionaler Geborgenheit führt. Es<br />
ist denkbar, dass sich diesbezüglich bei W.D. Gefühle der Enttäuschung entwickelt haben, die durch die<br />
sozial zugeschriebene Rollenerwartung an die Tochter, als „soziale Dienstleisterin der Familie“ im Falle<br />
der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, verstärkt werden. Diese Enttäuschung drückt sich vor allem dadurch<br />
aus, dass W.D. betont, seine Tochter könne aufgrund ihrer Entfernung nicht wirklich unterstützen, sondern<br />
lediglich gute Ratschläge am Telefon erteilen. Dennoch scheint die Tochter von W.D., nach seiner Ehefrau,<br />
die zweitwichtigste Bezugsperson in seinem Leben zu sein.<br />
Arbeit<br />
Arbeit ist in unserer Gesellschaft eine Grundlage für Teilhabe und Wohlfahrt (vgl. Minssen, 2012, S.<br />
7). Durch sie werden Personen mit Einkommen versorgt, erfahren Anerkennung auf der<br />
gesellschaftlichen Ebene (vgl. Kropf, 2005, S. 169) und erhalten dadurch soziales Prestige (vgl.<br />
Voswinkel, 2005, S. 244). Auch nach Prahl und Schroeter (vgl. 1996, S. 140) bewegt sich der Mensch<br />
im Beruf in einem sozialen System, das ihn gesellschaftlich verortet, ihn vergesellschaftet, mit<br />
Einkommen ausstattet, ihm Aufgaben und Kompetenzen verleiht, seinen Alltag strukturiert und<br />
soziale Beziehungen gewährt. Darüber hinaus bestimmen die Autoren Arbeit und Leistung als<br />
Kernpunkte grundlegender Werte sowie der Weltauffassung in modernen Gesellschaften (vgl. ebd.).<br />
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