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PUA - Prof. Dr. med. Andreas Zieger

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3. Empirie – Teil II<br />

Nach dem Renteneintritt kann die zur Verfügung stehende Zeit von den älteren Menschen zunächst als<br />

Urlaub wahrgenommen werden (vgl. Prahl, 1996, S. 147). Später erfolgt nach Prahl (vgl. ebd.) jedoch in<br />

der Regel die Einsicht, dass frei zur Verfügung stehende Zeit nicht mit Freizeit gleichzusetzen ist, woraus<br />

eine Unterscheidung zwischen Freizeit (z.B. lange schlafen, ausgiebig frühstücken, Ausflüge unternehmen)<br />

und Nicht-Freizeit (z.B. Hausarbeit, Behördengänge, Besorgungen) resultiert. Die Nicht-Freizeit erfüllt<br />

dabei die einstige Funktion der Arbeit und kann als neuer Gegenpol der Freizeit verstanden werden (vgl.<br />

ebd.). Daraus entsteht im Alltag eine Ersatzstruktur, die mit neuen Pflichten und Aufgaben verbunden ist<br />

(vgl. ebd.). Die Erhaltung dieser Alltagsstruktur wird dann oft durch ritualisiertes Alltagsverhalten erreicht,<br />

wohingegen Ungewohntes und Veränderungen eher abgelehnt werden (vgl. ebd., S. 149).<br />

Der alternative Wirkungsraum von W.D. war vor seinem Schlaganfall stark mit tagesstrukturierenden<br />

Tätigkeit im eigenen Haushalt und Garten sowie mit unterstützenden Aufgaben in der Nachbarschaft<br />

ausgefüllt, die als Nicht-Freizeit interpretiert werden können. Seine Äußerungen führen zu der Annahme,<br />

dass es ihm bei der Erfüllung seiner eigens bestimmten freizeitlichen Pflichten weniger um Erholung und<br />

Entspannung, als vielmehr um die Selbstverwirklichung seiner sozialen Rolle ging, die durch ein<br />

ausgeprägtes Bedürfnis nach Nützlichkeit gekennzeichnet war. Auf der gesellschaftlichen Ebene<br />

katalysierte dieses Bedürfnis der Nützlichkeit vermutlich sein soziales Engagement in Form von<br />

Nachbarschaftshilfe, wodurch er zugleich eine soziale Anerkennung sowie soziales Prestiges erfuhr.<br />

Durch die Folgen des Schlaganfalls scheint W.D. seine üblichen Freizeitgestaltungen nun nicht mehr<br />

aufrecht erhalten zu können. Dies ist vermutlich mit einem Anstieg an freier Zeit und zugleich mit<br />

einem Verlust seiner gewohnten Tagesstruktur sowie seiner sozialen Rolle verbunden. Aus der daraus<br />

anzunehmenden verminderten gesellschaftlichen Teilhabe von W.D., kann eine Verringerung seiner<br />

Lebensqualität und damit seines Wohlbefindens abgeleitet werden. Daraus kann geschlussfolgert<br />

werden, dass die für ältere Menschen vergleichsweise umfangreich zur Verfügung stehende freie Zeit<br />

in unserer Gesellschaft, von W.D. nicht nur als Gewinn für die eigene Freiheit, sondern auch als<br />

Belastung empfunden wird, wenn diese nicht nach eigenen Bedürfnissen gestaltet werden kann.<br />

Als Gegenpol zu seiner Nicht-Freizeit erwähnt W.D. Freizeitaktivitäten wie Urlaubsreisen und Fahrrad<br />

fahren. Er nimmt an, dass er diese Freizeitaktivitäten aufgrund der Folgen seines Schlaganfalls vorerst<br />

nicht mehr ausführen kann und betont, dass er höchstens noch „Alte-Leute-Urlaub“ machen könne.<br />

Diese Bezeichnung ist vermutlich auf ein gesellschaftliches Bild von Alter zurückzuführen und<br />

möglicherweise zugleich ein Hinweis darauf, dass sich W.D. nach seinem Schlaganfall selbst als alter<br />

Mensch betrachtet, der durch seine Einschränkungen und die gesellschaftlichen Zuschreibungen<br />

scheinbar dazu gezwungen ist, sein Identitätskonzept anzupassen.<br />

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