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Migrationssensibler Kinderschutz und Frühe Hilfen - Nationales ...

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Julia Weber / Anne Katrin Künster / Ute Ziegenhain<br />

Einen sechs Monate alten Säugling<br />

kann man nicht fragen, wie es ihm in<br />

der Interaktion mit seinen Eltern geht,<br />

wie er ihr Tempo empfindet, wie die Art<br />

gehalten zu werden, ob er ihre Stimmen<br />

mag, ob er genügend Zuneigung <strong>und</strong><br />

Wärme erfährt <strong>und</strong> sich geborgen fühlt.<br />

Er kann weder Fragebögen ausfüllen<br />

noch Interviews führen. Doch wie ist<br />

dann eine präzise Erfassung von Ver hal -<br />

ten <strong>und</strong> Erleben von Säuglingen möglich,<br />

wie kann eine Einschätzung der<br />

frühkindlichen Interaktionen erfolgen?<br />

In den Anfängen der Säuglings- <strong>und</strong><br />

Kleinkindforschung wurde dieses Dilem -<br />

ma, in verhaltensbiologischer Tradition,<br />

durch die Methode der Direkt beobach -<br />

tung gelöst. Jedoch war die Beobach -<br />

tungs methode mittels »paper and pencil«<br />

<strong>und</strong> vorher festgelegten Kategorien -<br />

systemen einigen methodischen <strong>und</strong><br />

erkenntnistheoretischen Einschrän -<br />

kungen unterlegen (vgl. Thiel 2003).<br />

»The living eye can see but cannot<br />

record« (Gesell 1928, S. 57). Der zentrale<br />

Nachteil des menschlichen Auges <strong>und</strong><br />

Gedächtnisses besteht darin, dass es das<br />

Gesehene nicht in seiner ursprünglichen<br />

Form festhalten kann. Aufgr<strong>und</strong> der<br />

Beschaffenheit des visuellen Apparates,<br />

von Aufmerksamkeitsprozessen, von Ein -<br />

stellungen, Befinden <strong>und</strong> Vorannah men<br />

sind die Beobachtungen mit dem »bloßen<br />

Auge« zwangsläufig einer hohen Selek -<br />

tivität <strong>und</strong> Subjektivität unterworfen<br />

(vgl. Thiel 2003). Mit dem Einsatz der<br />

Filmtechnik in den späten 20er Jahren<br />

<strong>und</strong> später der Videotechnik in den<br />

70er Jahren gelang es, die Grenzen der<br />

mensch lichen Wahrnehmungs- <strong>und</strong><br />

Erkenntnisfähigkeit zu öffnen <strong>und</strong> der<br />

Verhaltensbeobachtung als wissenschaftlicher<br />

Methode eine neue Qualität zu<br />

verleihen. Eine vom Beobachter unabhängige<br />

Fixierung des Geschehens als<br />

identische Abbildung des ursprünglich<br />

gezeigten Verhaltens wurde möglich.<br />

Das Erleben <strong>und</strong> Verhalten von Säug -<br />

lingen konnte via Videotechnik unkom -<br />

pliziert vor- <strong>und</strong> zurückgespult <strong>und</strong> durch<br />

Zeit lupenfunktion mikroanalytisch<br />

dargestellt werden. Die Fixierung des Ver -<br />

haltens <strong>und</strong> seine Auswertung erfolgten<br />

von nun an in zwei getrennten Pro zes s -<br />

en. Beobach tungen wurden damit über -<br />

prüfbar, zwischen mehreren Beob ach tern<br />

vergleichbar <strong>und</strong> nachvollziehbar (vgl.<br />

Thiel 2003).<br />

Die Erkenntnisse der letzten dreißig<br />

Jahre über die Fähigkeiten des Säuglings,<br />

die intuitiven Kompetenzen der Eltern,<br />

über den vorsprachlichen Dialog, über<br />

Bin dung <strong>und</strong> Selbstregulation verdankt<br />

die Klein kindforschung den technischen<br />

<strong>und</strong> methodischen Möglichkeiten dieser<br />

Tech nik (vgl. Als 1982; Papoušek <strong>und</strong><br />

Papou šek 1987; Papoušek 1994; Stern<br />

1985). Sie hat damit entscheidend zu<br />

einem um fassenden Verständnis der frühen<br />

Kind heit beigetragen <strong>und</strong> in der Folge<br />

einen be deut samen Einfluss auf die Dia -<br />

gnostik <strong>und</strong> Therapie von Problemen im<br />

Eltern-Kind-Interaktionsbereich gehabt.<br />

Videointeraktionsbeobachtung<br />

als diagnostische Methode<br />

in der frühen Kindheit<br />

Die ges<strong>und</strong>heitliche <strong>und</strong> seelische<br />

Ent wicklung von Säuglingen <strong>und</strong> Klein -<br />

kindern wird entscheidend dadurch<br />

beeinflusst, wie feinfühlig Eltern sich im<br />

Umgang mit ihnen verhalten, welche<br />

Erziehungsvorstellungen sie haben oder<br />

wie sie die gegenständliche <strong>und</strong> soziale<br />

Umwelt für sie strukturieren. Verhaltens -<br />

probleme oder -auffälligkeiten bei Säug -<br />

lingen <strong>und</strong> Kleinkindern sind daher nur<br />

im Kontext von Bindungsbeziehungen<br />

zu interpretieren. Umgekehrt bedeutet<br />

dies, dass die Qualität elterlicher Bezie -<br />

hungs- <strong>und</strong> Erziehungskompe tenzen eine<br />

zentrale Informationsquelle für frühe<br />

Anzeichen von kleineren oder größeren<br />

Belastungen in der Beziehung, für Risiken<br />

von Verhaltensproblemen oder -stö run -<br />

gen beim Kind bzw. in kritischen Fällen<br />

auch von (drohender) Kindes wohl gefähr -<br />

dung ist (vgl. Bornstein 2002; Ziegen -<br />

hain 2008).<br />

IzKK-Nachrichten 2010-1: <strong>Kinderschutz</strong> <strong>und</strong> <strong>Frühe</strong> <strong>Hilfen</strong><br />

Schnittstellen <strong>und</strong> Übergänge<br />

Videogestützte Interaktionsbeobachtung<br />

als Instrument zur Diagnostik <strong>und</strong> Förderung in der frühen Kindheit<br />

Um Interaktionsmuster in der frühen<br />

Kindheit beobachten <strong>und</strong> detailliert analysieren<br />

zu können, hat sich der Einsatz<br />

von Videotechnik in der Praxis bewährt.<br />

Dabei stellt der Einsatz von Video keine<br />

diagnostische Methode an sich dar, sondern<br />

bleibt eine Technik im Dienste der<br />

Verhaltensbeobachtung. Die Einschät zung<br />

des Verhaltens kann durch standardisierte<br />

Beobachtungsskalen oder durch ein eher<br />

exploratives, auf die individuelle Pro -<br />

ble matik der Familie zugeschnittenes Vorgehen<br />

erfolgen. Die Verwendung von<br />

standardisierten Beobachtungsverfahren<br />

in der Videodiagnostik hat den Vorteil,<br />

im Gegensatz zur reinen klinischen oder<br />

intuitiven Einschätzung der Interaktion,<br />

dass sie objektiven Kriterien unterliegen<br />

<strong>und</strong> in ihrer Gültigkeit <strong>und</strong> Zuverlässig -<br />

keit überprüfbar sind. Gerade im Aus -<br />

tausch mit anderen Fachkräften über kritische<br />

Eltern-Kind-Interaktionen kann<br />

eine solche objektive Einschätzungs gr<strong>und</strong>lage<br />

notwendig werden. Darüber hinaus<br />

helfen standardisierte Beobach tungs -<br />

metho den, den »toten Winkel« der eigenen<br />

Wahrnehmung zu verkleinern <strong>und</strong> damit<br />

rechtzeitig ungünstige Eltern-Kind-Be zie -<br />

hungen zu erkennen. Im Span nungs feld<br />

von <strong>Frühe</strong>n <strong>Hilfen</strong> <strong>und</strong> frühen Inter ven -<br />

tionen im <strong>Kinderschutz</strong> lässt sich die vi -<br />

deogestützte Interaktions beobachtung als<br />

ein Bestandteil eines umfassenden Dia gnoseinventars<br />

zur Risiko einschät zung nutzen.<br />

Bei der Verwendung der Videotechnik<br />

sind einige ethische Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> methodische Einschränkungen zu<br />

berücksichtigen. Zu beachten ist z.B., dass<br />

die Auswertung der Aufnahme von der<br />

gewählten Aufnahmesituation ab hängt.<br />

Das bedeutet, dass gerade bei kri ti schem<br />

Elternverhalten nicht ohne Wei teres von<br />

einem auf einen anderen Kon text ge -<br />

schlos sen werden darf. Hier sind dringend<br />

weitere Beobachtungen in unterschiedlichen<br />

Situationen angezeigt. Eine videogestützte<br />

Interaktions beobach tung bildet<br />

lediglich ein »Puzzleteil« im Gesamtbild<br />

der Eltern-Kind-Inter aktio nen ab. Häufig<br />

wird als weitere metho dische Ein schrän -<br />

kung genannt, dass die Eltern vor der<br />

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