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Migrationssensibler Kinderschutz und Frühe Hilfen - Nationales ...

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Reinhart Wolff<br />

Hilfe <strong>und</strong> Schutz für alle von Anfang an –<br />

Keine Trennung zwischen <strong>Frühe</strong>n <strong>Hilfen</strong> <strong>und</strong> <strong>Kinderschutz</strong><br />

<strong>Frühe</strong> <strong>Hilfen</strong> <strong>und</strong> die Rückkehr<br />

der Unsicherheit im flexiblen<br />

Kapitalismus<br />

Mit Blick auf die sich wandelnden Ge -<br />

schlechter- <strong>und</strong> Generations bezie hun gen<br />

– <strong>und</strong> das heißt nicht zuletzt: auf die<br />

heutige markante Krise der Genealogie 1<br />

(vgl. Berkel 2006) – ist es produktiv, um<br />

<strong>Hilfen</strong> für Eltern <strong>und</strong> Kinder schlüssig<br />

zu begründen, zu fra gen: Wie verändern<br />

sich unter den Bedingungen der fort -<br />

geschrittenen Moderne, des »flexiblen<br />

Ka pitalismus« (vgl. Lessenich 2008) ent -<br />

wicklungs notwendige Triangulierun gen?<br />

Pro fes sions soziologisch <strong>und</strong> -psychologisch<br />

gewendet: Wer besetzt <strong>und</strong> gestaltet<br />

die Rolle des Dritten, nachdem viele Väter<br />

– zumal unter Verhältnissen struktureller<br />

Deprivation <strong>und</strong> Margina li sie rung, also<br />

unter Bedingungen des modernen Pre -<br />

kariats – bereits das Feld geräumt haben?<br />

Meine Ausgangsthese, die sich möglicherweise<br />

für eine historisch-kritische<br />

Analyse <strong>Frühe</strong>r <strong>Hilfen</strong> als hilfreich erweisen<br />

könnte, ist nun: Die Dritten, die da<br />

mit Skepsis, Angst, Konkurrenzgefühlen,<br />

nicht zuletzt mit Wissen <strong>und</strong> Macht,<br />

aber auch mit Zuneigung, Liebe <strong>und</strong><br />

Hilfsbereitschaft vor den immer weniger<br />

werdenden Müttern <strong>und</strong> Kindern stehen,<br />

das sind nun seit gut h<strong>und</strong>ert<br />

Jahren die Professionellen, wie die ökologische<br />

Sozialisationsforschung (vor allem<br />

Urie Bronfenbrenner) als entwicklungsentscheidend<br />

herausgestellt <strong>und</strong> betont<br />

hat: N+2-Systeme, nämlich Triaden,<br />

Tetraden <strong>und</strong> größere zwischenmenschliche<br />

Strukturen bringen Entwicklung<br />

voran, ermöglichen eine Lösung aus den<br />

dyadischen Primärbeziehungen, die, so<br />

notwendig sie für die basale Persönlich -<br />

keitsentwicklung sind, ohne Erweiterung<br />

durch Dritte die autonome Weiter ent -<br />

wicklung des sich entwickelnden Kindes<br />

gefährden (vgl. Bronfenbrenner 1981).<br />

8<br />

Standpunkte<br />

Diese Rolle als Dritte wahrzunehmen,<br />

ist eine große Chance der Professionel -<br />

len. Professionelle Triangulierung kann<br />

aber auch zu einer Gefahr werden: nämlich<br />

in ein expertokratisches Unter neh men<br />

der Kolonisierung der Lebens welt von<br />

Eltern <strong>und</strong> Kindern umschlagen. Positiv<br />

ermöglicht sie eine extra-positionelle<br />

Perspektiverweiterung. Mit gelungener,<br />

d.h. mit einer neue Bezie hungen <strong>und</strong><br />

neue Freiheit ermöglichenden Triangulie -<br />

rung werden wir ein Ich im Milieu der<br />

anderen, selbstständig <strong>und</strong> sozial. Eine<br />

solche reflexive Triangu lie rung gelingt<br />

allerdings nur im Dialog, mit normativer<br />

<strong>und</strong> machtmäßiger Balance im Bezie -<br />

hungs geflecht, mit Ambivalenz toleranz<br />

(vgl. Bauriedl 1980). Beides ist den Fach -<br />

leuten der <strong>Frühe</strong>n <strong>Hilfen</strong> (angefangen<br />

von ersten Für sorgerinnen der Säuglings<strong>und</strong><br />

Klein kindfürsorge am Anfang des<br />

20. Jahr h<strong>und</strong>erts bis hin zu den heutigen<br />

FrühförderspezialistInnen, Familien heb -<br />

am men <strong>und</strong> Kinder schutz koordi natorIn -<br />

nen) nicht leichtgefallen. Aber man kann<br />

sagen: Offene, gelungene Trian gulierung<br />

ist die Basis für professionelle Qualität.<br />

Sie ist freilich unter den Bedingungen<br />

der Rückkehr der Unsicherheit in den<br />

modernen Gesellschaften des flexiblen<br />

Kapitalismus nicht einfach zu realisieren.<br />

Denn wir stehen vor einer außerordentlich<br />

widersprüchlichen Situation: Wäh rend<br />

die realen Bedrohungen, Gefähr dun gen<br />

<strong>und</strong> Belastungen zunehmen (aufgr<strong>und</strong><br />

der ökonomischen, politischen, wissenschaftlich-technischen<br />

Umbrüche in<br />

globaler Dimension), sind zugleich un -<br />

sere Ansprüche an gelingendes Leben,<br />

an die Meisterung der gesellschaftlichen,<br />

wirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong> überhaupt<br />

aller fachlichen Aufgaben enorm<br />

gewachsen.<br />

Damit entsteht eine neue soziale Un -<br />

sicherheit, <strong>und</strong> wir können mit Robert<br />

Castel das moderne Paradox herausstellen<br />

(vgl. Castel 2005), dass nämlich die Sorge<br />

um die Sicherheit in modernen Gesell -<br />

schaften allgegenwärtig ist, obwohl »diese<br />

Gesellschaften von Sicherheitssystemen<br />

IzKK-Nachrichten 2010-1: <strong>Kinderschutz</strong> <strong>und</strong> <strong>Frühe</strong> <strong>Hilfen</strong><br />

umgeben <strong>und</strong> durchzogen sind«, <strong>und</strong> man<br />

kann fragen: »Was bedeutet es unter solchen<br />

Bedingungen, abgesichert zu sein?<br />

Es bedeutet jedenfalls nicht, dass man es sich<br />

in der Gewissheit bequem machen kann,<br />

allen Lebensrisiken aus dem Weg gehen zu<br />

können, sondern vielmehr, dass man um -<br />

geben von Systemen der Absiche rung lebt,<br />

die ebenso komplexe wie anfällige Kon -<br />

struk tio nen sind. Diese Versorgungs systeme<br />

bergen das Risiko, an ihrer eigenen Auf gabe<br />

zu scheitern <strong>und</strong> die geweckten Erwar tun -<br />

gen zu enttäuschen« (Castel 2005, S. 8 f).<br />

Diese paradoxale Situation verschärft<br />

sich in den letzten Jahrzehnten vor allem<br />

dadurch, dass es bei fortschreitender ge -<br />

sellschaftlicher Individualisierung zu gleich<br />

zu einem Prozess der Um gestal tung des<br />

etatistischen »Versorgungs staats« gekom -<br />

men ist: Bei fortschreitender Individu ali -<br />

sierung <strong>und</strong> bei gleich zeitiger Schwä chung<br />

der »kollektiven Orga nisationsformen<br />

der Vertretung von Arbeitnehmer interes -<br />

sen« (vgl. Castel 2005, S. 58) <strong>und</strong> einer<br />

Flexibilisierung <strong>und</strong> »Entstandardisie rung<br />

der Erwerbs arbeit« (vgl. Beck 1986), mit<br />

einer Auf lösung traditioneller, sicherer<br />

»Karriere wege« <strong>und</strong> Prozessen der »Ent -<br />

bettung«, was auf neue »Biografie muster«<br />

hinausläuft, wird eine neue »Regierung<br />

des Sozialen« notwendig, ein »Übergang<br />

zu einer sozialstaat lichen Steuerungslogik<br />

der gesellschaftsverpflichteten Selbst -<br />

aktivierung« (vgl. Lessenich 2008, S. 77),<br />

eine neue »Gouvernementalität« (ebd.,<br />

S. 82). Neue Gouvernementalität heißt<br />

»Anlei tung zur Selbststeuerung« (vgl. Saar<br />

2007, S. 38). Das ist die Gr<strong>und</strong>lage für<br />

das neue Interesse der Politik an <strong>Frühe</strong>n<br />

<strong>Hilfen</strong>. Sie setzen auf Freiheit <strong>und</strong> wollen<br />

die sozialstaatlichen Institu tionen als<br />

»Ermög lichungs agenturen aktiver Eigen -<br />

verant wor tung« regelrecht neu erfinden<br />

(vgl. Lessenich 2008, S. 84). Sie verstärken<br />

jedoch zugleich die vorm<strong>und</strong>schaftskomplexhafte<br />

Erfassung <strong>und</strong> Kontrolle armer,<br />

marginalisierter Bevölkerungs schichten,<br />

denen gesellschaftlich <strong>und</strong> politisch keine<br />

wirklichen Teilhabe chancen eingeräumt<br />

1 Geschlechter- <strong>und</strong> Generationenordnung

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