Beiträge zum 46. IPV-Kongreß in Chicago, Juli 2009 - Frommann ...

68 Antonino Ferro
Schließlich: in meinem Behandlungszimmer
Filippo ist ein junger Psychologe von angenehmem Äußeren, mit lockigem
Haar und im Kontakt sehr ruhig und liebenswürdig. Er hat keine
klaren Pläne für sein zukünftiges Leben und schwankt zwischen einer
Arbeit, die ihn in Kontakt mit anderen Menschen bringen würde, und
einer statistischen Arbeit, die ihm eine Universitätskarriere eröffnen
könnte.
In einer der ersten Analysesitzungen erzählt er mir von der neuen
Arbeit, die er in einem Gefängnis (!) gefunden hat, wo er vor allem arabische
Patienten sieht, deren Sprache er nicht kennt, mit denen er sich
aber zu verständigen sucht. Mein Verzicht, sowohl die »seinem Selbst
unbekannten« Aspekte als auch seine Probleme mit der neuen schwierigen
Analysesprache zu deuten, führt zum Ergebnis, daß er anfängt, die
Geschichten dieser Araber auszuschmücken … die Geschichte von Ali
und seiner Eifersucht, die Geschichte von Mohammed und seinem Rachebedürfnis
… So bilden sich Emotionen, die »unter anderen Namen«
zu kreisen beginnen: mir erscheint dies als eine Möglichkeit, zweidimensional
gewordene oder sozusagen gefriergetrocknete Emotionen in
erträglicher Form in das Behandlungszimmer einzulassen.
Meine diesbezügliche Umsicht wird von einer Sitzung gefolgt, in der
Filippo davon spricht, wie er seine »Vespa« (eine alte Motorrollermarke)
frisiert. Ich sage ihm, daß »Vespa« mich auch an ein Insekt erinnert, das
sticht. 2 Er schweigt für den Rest der Stunde, und das nächste Mal sagt
er mir, eine elektrische Ladung oder ein Blitz habe ihm buchstäblich
den Computer verbrannt, ihn dadurch am Weiterarbeiten gehindert und
alles bereits Geschriebene zerstört.
Eine Erzählung, eine Kindheitserinnerung, wird zum zentralen Punkt
für viele Sitzungen: Bei der Geburt der kleinen Schwester war er den
Großeltern mütterlicherseits in der Schweiz anvertraut worden, bei
denen er sich nach seiner Aussage sehr wohl fühlte. Er erinnert sich nur
an die mit vielen Löffeln voll Zucker gesüßte Milch, die er am Fenster
zu sich genommen hatte und der er heimlich noch weiteren Zucker zufügte.
2 Im Italienischen ist vespa/Vespa sowohl der Name des Tieres als auch der Name des
Motorrollers.