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LANDLEBEN<br />
Familienbetriebe unter Druck<br />
AGRARPOLITIK UND GESUNDHEIT Eine Studie untersuchte die Auswirkungen<br />
der Agrarpolitik auf Gesundheit und Wohlergehen der Milchbauern der Westschweiz,<br />
der französischen Franche-Comté und der kanadischen Provinz Québec. Die Schweiz<br />
hat die Milchkontingentierung aufgehoben, die EU wird diesen Schritt 2015 vollziehen.<br />
In Kanada hingegen ist die Milchkontingentierung Bestandteil der Agrarpolitik.<br />
Québec<br />
Valérie<br />
Miéville<br />
Grafik: Anteil der Milchbauern mit hohem Stressniveau<br />
Quelle: Ginette Lafleur<br />
Westschweiz<br />
Franche-Comté<br />
Milchproduzenten<br />
Das Projekt Consoppa (sozio-psychologische<br />
Folgen der Agrarpolitik)<br />
beurteilte die Auswirkungen<br />
der Agrarpolitik auf die Gesundheit<br />
der Milchbauern in Québec, Franche-<br />
Comté und der Schweiz. Untersucht<br />
wurde das physische und psychische<br />
Wohlergehen wie Gesundheit, Krankheit,<br />
Unfälle, Stress, Müdigkeit, Depressionen,<br />
Arbeitsbelastung, aber auch die<br />
soziale Intergration. Dazu in Beziehung<br />
0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 %<br />
Die Nerven liegen blank<br />
Wenn man hierzulande mit Bauern spricht, dann spürt man die Freude<br />
an ihrem Hof und ihre Schaffenskraft. Immer aber machen sie sich<br />
Gedanken darüber, wie das Wetter und die Ernte sein werden, wie die<br />
Preise und das Zinsniveau sich entwickeln und was sich bei den<br />
Direktzahlungen ändern wird. In dunklen Stunden nagt die Unsicherheit,<br />
der Ärger und Fatalismus. So auch bei Henri*, wenn er um halb<br />
fünf in der Früh in die Stiefel schlüpft, zur Tür hinaus und hinüber zum<br />
Stall geht . Er ist 55 und hat 45 Kühe zu melken. «Als ich den Betrieb<br />
vor über 25 Jahren übernahm, war der Milchpreis bei einem Franken.<br />
Im Laufe der Jahre investierte ich viel, zuerst in einen neuen Stall, dann<br />
ins Wohnhaus, einen Schopf, ins Stöckli – irgendetwas war da immer»,<br />
erzählt er und fährt fort: «So morgens im Stall ist es ruhig, dann mache<br />
ich mir so meine Gedanken. Ich spüre langsam das Alter. Die Arbeit<br />
geht nicht mehr so flott voran wie noch vor Jahren. Was mir zu schaffen<br />
macht ist die Unsicherheit: Ich weiss nicht, ob der Junior den Betrieb<br />
übernehmen wird. Dann hoffe ich, dass der Milchpreis steigt, aber die<br />
letzten Jahre bewiesen etwas anderes. Früher war ich unbeschwerter,<br />
heute lebe ich in der steten Furcht etwas falsch zu machen, sei es im<br />
Betrieb oder bei den Aufzeichnungen.»<br />
* Name geändert.<br />
gesetzt wurde die Einkommens- und<br />
Preisentwicklung, agrarpolitische Veränderungen<br />
und die Verschuldungssituation.<br />
Die Studie brachte Erschütterndes zutage:<br />
Bei 36% der Westschweizer<br />
Milchproduzenten ist die wirtschaftliche<br />
Lage schwierig bis sehr ernst. Auch<br />
dachten während der vergangenen 12<br />
Monate 7% der Bauern ernsthaft an<br />
Selbstmord.<br />
Alarmierend Weiter zeigte der Vergleich,<br />
dass die Schweizer Milchviehhalter<br />
um einiges gestresster sind als ihre<br />
Kollegen in Frankreich oder Kanada.<br />
54.8% finden ihre Arbeitstage als extrem<br />
bis genug stressig, während es in<br />
Québec 44.7% und 40% in der Region<br />
Franche-Comté sind (Grafik). Auch zeigte<br />
eine detaillierte Auswertung, dass die<br />
psychische Belastung in finanziell<br />
schwierigen Situationen arg ansteigt.<br />
Die Québecer Landwirte erklären signifikant<br />
häufiger «Herr ihrer Lage zu<br />
sein» als ihre Schweizer Kollegen. Ein<br />
gutes Selbstwertgefühl wirkt also ohne<br />
Zweifel stressmindernd.<br />
Nie krank, nie Ferien Kranke<br />
Bäuerinnen und Bauern gehen nur in<br />
Notfällen zum Arzt. Das Verhältnis zur<br />
Gesundheit ist geprägt von «auf die Zähne<br />
beissen». Fallen die Bauern krankheits-<br />
oder unfallhalber auf ihrem Betrieb<br />
aus, müssen die übrigen<br />
Familienmitglieder einspringen, auch ist<br />
die überbetriebliche Hilfe durch Nachbarn,<br />
Lohnunternehmer oder Betriebshelfer<br />
finanziell eine hohe Belastung<br />
und oftmals verbunden mit einer Existenzgefährdung<br />
des Betriebs und damit<br />
der eigenen Lebensgrundlage.<br />
Agrarreformen und Planung Seit<br />
den späten 80er Jahren hat sich die<br />
Agrarpolitik (AP) für die Landwirtschaft<br />
in einem rasanten Tempo verändert: AP<br />
2002, AP 2007, AP 2011 und AP 14-17<br />
sind für die Bauern geläufige Begriffe.<br />
Die Bedeutung und Legitimität der Direktzahlungen<br />
sind auch für die Bauern<br />
einsichtig, die Umsetzung im Betrieb<br />
und im Alltag hingegen ist für viele eine<br />
Last. Ins Gewicht fallen die vielfältigen<br />
Aufzeichnungspflichten und die Kontrollen.<br />
Über den Aufzeichnungsaufwand<br />
beklagten sich auch die Bauern in<br />
der Franche-Comté und in Québec.<br />
Das Tempo des agrarpolitischen<br />
Wandels im vierjährigen Rhythmus ist<br />
unvereinbar mit den Produktionszyklen<br />
der Landwirtschaft. Der Landwirt plant<br />
mit Lebenszyklen von Tieren und Pflanzen<br />
und ist den Wetterbedingungen<br />
ausgesetzt. Investiert wird mittel- bis<br />
langfristig, meistens für zehn bis 25 Jahre,<br />
in Maschinen, in Gebäude und<br />
Grundstücke. Längerfristig wird im Rahmen<br />
der Familiengeschichte mit der<br />
Hofnachfolge strategisch über die<br />
nächste Generation hinaus gedacht.<br />
Wenn wirtschaftlich und agrarpolitisch<br />
der Planungshorizont kurz ist, ist<br />
ein hohes Mass an Unsicherheit vorhanden,<br />
was entsprechend Risikobereitschaft<br />
erfordert, aber was vor allem belastend<br />
und in hohem Masse Stress<br />
fördernd ist.<br />
Landwirt Henri sucht in der Natur<br />
Distanz zur Büroarbeit. Aufzeichnungen<br />
und Administration vergällen vielen<br />
Bauern Lebensfreude und Berufsstolz.<br />
Bild: landpixel.com<br />
84 6 2012 · <strong>UFA</strong>-REVUE