„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
12<br />
fangener, erst 1920 aus Sibirien, lebenslang<br />
gesundheitlich anfällig, nach<br />
Berlin zurückgekehrt, gründete er<br />
1921 <strong>die</strong> von ihm geleitete „Märkischen<br />
Spielgemeinde Berlin“, <strong>die</strong> sich<br />
nicht nur mit dem Musizieren an festen<br />
Orten begnügte, sondern musizierend<br />
auf Fahrt ging. 1923 hatte er als<br />
Nachfolger Ernst Buskes <strong>die</strong> Führung<br />
des Alt-Wandervogels übernommen.<br />
Er arbeitete am Spandauer Lehrerseminar<br />
und diversen anderen pädagogischen<br />
Einrichtungen in Berlin, ehe er<br />
beschloss, sich künftig ausschließlich<br />
der Musikerziehung in einer überörtlichen<br />
Einrichtung zu widmen, um über<br />
<strong>die</strong> Musikerziehung „der Ganzheit des<br />
Lebens in seiner Einheit und der Gemeinsamkeit<br />
seiner Teile zu <strong>die</strong>nen“,<br />
wie es Fritz Jöde ausdrückte.<br />
So beendete er 1923 seine Tätigkeit<br />
Das Musikheim um 1930<br />
als Volksschullehrer in Berlin für ein<br />
freies Musikstudium, um seinem großen<br />
Ziel damit näher zu kommen.<br />
Es war ein großes Glück für ihn, dass<br />
ihm 1924 der preußische Kultusminister<br />
Carl Heinrich Becker begegnete,<br />
der ihm auch ohne Stu<strong>die</strong>nabschluss<br />
<strong>die</strong> Chance gab, seinen Lebenstraum<br />
in einer eigenen Stätte der Musikpädagogik<br />
in Frankfurt/Oder zu verwirklichen.<br />
Götsch war durchaus keine unproblematische<br />
Figur. Ein Mensch, der alle<br />
seine Gefolgsleute und Schüler mitreißen<br />
konnte, aber auch schnell empfindlich<br />
reagierte. Er wird von Zeitgenossen<br />
als sprunghaft, bisweilen unerträglich<br />
rechthaberisch geschildert,<br />
politisch naiv, keine Seltenheit in der<br />
Jugendbewegung. Er war Mitglied der<br />
NSDAP und äußerte sich zur Machtergreifung<br />
sehr positiv, wie auch Gardiner<br />
und andere Jugendbewegte, <strong>die</strong><br />
den Nationalsozialismus allzu lange für<br />
eine Umsetzung ihrer Theorien in <strong>die</strong><br />
Wirklichkeit einer Gesellschaft hielten.<br />
Seine Ehe mit der Engländerin Kitty<br />
Trevelyan zerbrach 1936 an <strong>die</strong>sen<br />
Diskrepanzen. Welchen Anteil ihre von<br />
Insidern erwähnte angebliche Affäre<br />
mit dem Puppenspieler Harro Siegel<br />
an <strong>die</strong>ser Trennung hatte, mag dahingestellt<br />
bleiben.<br />
Carl Heinrich Becker<br />
In der Person des mehrjährigen Preußischen<br />
Kultusministers Carl Heinrich<br />
Becker begegnet uns ein Mann, dessen<br />
Anteil an der Entwicklung der Lehrerakademien<br />
zwar<br />
bekannt ist, dessen<br />
fördernde, vermittelnde<br />
und koordinierende<br />
Rolle in der<br />
Durchsetzung der<br />
Ideen der "neuen<br />
Richtung" und der<br />
Volkshochschulheime,<br />
aber auch der Arbeitslagerbewegung,<br />
oft<br />
unterschätzt wird,<br />
weil in der Fachliteratur<br />
eben jene Personen<br />
im Vordergrund<br />
stehen, <strong>die</strong> das große<br />
Wort in der theoretischen Diskussion<br />
führten.<br />
Carl Heinrich Becker aber war ein im<br />
Hintergrund unentwegt fördernder<br />
und stimulierender Begleiter all <strong>die</strong>ser<br />
Entwicklungen. Es ist ausschließlich<br />
seiner Überzeugungskraft zu danken,<br />
dass eine so neue Einrichtung wie das<br />
Musikheim in der Politik durchgesetzt<br />
werden konnte und wir können das<br />
Musikheim durchaus als ein Geschenk<br />
Beckers an Götsch sehen.<br />
Das Musikheim wurde dabei ganz bewusst<br />
im östlichen Brandenburg errichtet,<br />
um, ähnlich wie das Boberhaus,<br />
neben dem fachlichen Zweck<br />
auch <strong>die</strong> Region zu stärken. 15<br />
Gardiner berichtet, das Musikheim sei<br />
ursprünglich als "Volkshaus im deutschen<br />
Osten" gedacht gewesen und<br />
Götsch spricht gar von „Durchblutung<br />
und geistige Kolonisierung des Ostraumes“<br />
16<br />
1927 übertrug Becker Georg Götsch<br />
<strong>die</strong> Leitung <strong>die</strong>ser Einrichtung in<br />
Gründung, unter der Bedingung, dass<br />
<strong>die</strong>ser sein Musikstudium abschlösse.<br />
Er hat <strong>die</strong>se Bedingung nie erfüllt.<br />
1928 vollzog Carl Heinrich Becker persönlich<br />
<strong>die</strong> Grundsteinlegung, 1929<br />
wurde das vom Architekten Otto Bartning<br />
entworfene Gebäude in Frankfurt/Oder<br />
eingeweiht. Es war seitdem<br />
eine der führenden deutschen Fortbildungsstätten<br />
für Musiklehrer und Jugendführer,<br />
bot aber eine Vielfalt weiterer<br />
Veranstaltungen an, bis hin zu<br />
Arbeitslagern.<br />
15 Man kann alle drei hier behandelten Einrichtungen<br />
auch als Siedlungen bezeichnen, “Settlements”,<br />
wie es Gardiner ausdrückt. Allerdings<br />
nicht im Sinne der schon erwähnten lebensreformerischen<br />
Siedlungen, sondern der englischen<br />
Settlement-Bewegung Barnetts: Angehörige<br />
gebildeter bürgerlicher Schichten siedelten<br />
in den Elendsvierteln des Proletariats und boten<br />
nachbarschaftliche Kontakte und Weiterbildungsmöglichkeiten<br />
an. Dadurch sollte das<br />
Selbsthilfepotential der Betroffenen gestärkt<br />
werden, was im Gegensatz zur bis dahin praktizierten<br />
Hilfe in Form von Almosengeben<br />
stand.(Formulierung Wikipedia)<br />
16 zit. nach: Gruhn, Wilfried: Geschichte der<br />
Musikerziehung. Hofheim: Wolke 1993; S. 232