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„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein

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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />

58<br />

preußischen Königshof der Metternich-Ära.<br />

4. Und jetzt, nach Herder-Goethe-<br />

Humboldt: Willkommen <strong>Reichwein</strong>!<br />

Aber nicht plump und direkt, sondern<br />

in der übergreifenden heuristischen<br />

Perspektive des Vergleichs zum Thema:<br />

„Reise, Erdleben, Kosmos und<br />

weltbürgerliches Bewußtsein“. Jetzt<br />

ist auch deutlich geworden, daß und<br />

inwiefern wir im Weltbild-Kapitel,<br />

(Sch 32-85; gemäß Nohl, den Schernikau<br />

sehr, sehr vorsichtig und mit spitzen<br />

Finger zitiert, um sich nicht an<br />

seinem überzogenen Nationalismus<br />

anzustecken) den Schritt von den additiven<br />

Enzyklopä<strong>die</strong>n der Aufklärung<br />

zum Bild einer von innen heraus lebendig<br />

gestaltgewordenen und gestaltwerdenden<br />

Welt vollzogen haben,<br />

zum Bild einer Welt nicht als reale<br />

oder mentale Konstruktion, sondern<br />

(aristotelisch und goethisch gesprochen)<br />

als Entelechie, als „geprägte<br />

Form, <strong>die</strong> lebend sich entwickelt“.<br />

4. Tiefensee. Eine reformpädagogische<br />

Goethe-Schule:<br />

Weltbild – Morphologische Methode<br />

– Reformpädagogische Lehrkunst<br />

1. Nun kommen wir, unserer Leseempfehlung<br />

entsprechend, zum<br />

Sprung über <strong>die</strong> hundert Jahr zwischen<br />

Weimar I und Weimar II, zum<br />

Sprung von Herder-Goethe-Humboldt<br />

zu <strong>Reichwein</strong>s reformpädagogischem<br />

Schulmodell aus dem Geiste der Deutschen<br />

Klassik – im gefährlichen Kontra<br />

zum frühen Hitlerdeutschland.<br />

Die hundert Jahre zwischen Weimar I<br />

und Weimar II dürfen wir vorläufig<br />

überspringen, auch weil Schernikau<br />

selbst <strong>die</strong> Eröffnung der beiden Tiefenseekapitel<br />

(V/VI)) als Zusammenfassung<br />

der fünf fachdidaktischen<br />

Längsschnitte (Kap. III/IV) angelegt<br />

hat. Im Bild: Finden sich Parallelen in<br />

den Küstenlinien der Deutschen Klassik<br />

und dem durch hundert Jahre getrennten<br />

Tiefenseer Schulmodell? Im<br />

Klartext: Finden sich Parallelen zwischen<br />

dem Reformpädagogen <strong>Reichwein</strong><br />

und Herder-Goethe-Humboldt<br />

trotz Hitler?<br />

2. Aber wie könnte das gehen? Wird<br />

<strong>Reichwein</strong> Herders kosmologisch fun<strong>die</strong>rte<br />

weltbürgerliche Weltgeschichte<br />

zum Jugend- und Schulbuch fortschreiben<br />

und umschreiben in der Art<br />

von Gombrichs „Kurzer Weltgeschichte<br />

für junge Leser“? Und wird er Goethes<br />

Pflanzenmetamorphose unterrichtsgängig<br />

machen und durch<br />

Wahrnehmungs-Etüden fachübergreifend<br />

verallgemeinern? Und vielleicht<br />

Humboldts Ansichten der tropischen<br />

Natur zum weltumrundenden Schulbuch<br />

ausarbeiten so ähnlich wie Hedins<br />

„Von Pol zu Pol“ oder in heimische<br />

Naturansichten übersetzen wie<br />

Lagerlöfs Nils Holgersohn? Solche direkten<br />

Entsprechungen diskutiert<br />

Schernikau gar nicht erst. (Leider<br />

nicht! Diesen Zwischenruf mag der<br />

Rezensent nicht unterdrücken; vgl.<br />

Berg u.a. 2009, Teil III) Vermutlich<br />

wären für Schernikau solche Entsprechungen<br />

nicht aus dem Geist, sondern<br />

nur nach dem Buchstaben der Deutschen<br />

Klassik; und vor allem widersprächen<br />

sie dem Selbstätigkeitsaxiom<br />

der Reformpädagogik. Schernikau<br />

sucht ja bei <strong>Reichwein</strong> <strong>die</strong> Synthese<br />

von Deutscher Klassik und Reformpädagogik,<br />

<strong>die</strong> Synthese von Weimar I<br />

und Weimar II: keine schlichte und direkte<br />

Fortschreibung der Goethezeit,<br />

sondern eine moderne reformpädagogische<br />

Metamorphose. Denn auch<br />

für Goethe gilt seine eigene Maxime:<br />

„Und umzuschaffen das Geschaffne,<br />

damit sich’s nicht zum Starren waffne!“<br />

3. Wie also wird <strong>Reichwein</strong> das Erbe<br />

der Deutschen Klassik und der Reformpädagogik<br />

verbinden, verwandeln<br />

und vergegenwärtigen können –<br />

unter den Bedingungen des frühen<br />

Hitlerismus? Schernikau folgt zwei<br />

Leitfragen: Erstens: Wie konkretisiert<br />

sich das klassische Weltbild im übergreifenden<br />

Lehrplan der Schule, speziell<br />

im Tiefenseer Jahresplan und in<br />

der Formenkunde? Zweitens: Verwirklicht<br />

<strong>Reichwein</strong> in seiner Lehrkunst <strong>die</strong><br />

morphologische Methode Goethes?<br />

Die Spurensuche und Beweisführung<br />

wird allerdings schwierig werden.<br />

Denn: „Zum Eigensinn der hier behandelten<br />

Schriften gehört es, daß der<br />

Autor <strong>die</strong>se zwar zu einem anregenden<br />

Sinn-Bild reflektierter Schulpraxis<br />

verdichtet hat, daß er sich aber jeglicher<br />

Kommentierung in theoretischer<br />

oder historischer Perspektive enthält.<br />

Ein ausdrücklicher Hinweis auf Bezüge<br />

zur Deutschen Klassik ist daher nicht<br />

zu finden.“ (Sch 16) Wir dürfen also<br />

nur einen Indizienbeweis erwarten,<br />

kein Autorengeständnis.<br />

4.1 Das klassische Weltbild im Tiefenseer<br />

Jahresplan<br />

Für Schernikaus strukturell vergleichenden<br />

und hermeneutisch interpretierenden<br />

Blick wird bei <strong>Reichwein</strong><br />

aus vielen Belegstellen „das Bild einer<br />

Welt erkennbar, <strong>die</strong> sich von unten<br />

nach oben in stufenförmiger Weise<br />

aufbaut, vom Einfachen zum Komplexen<br />

schreitend, <strong>die</strong> schließlich ein miteinander<br />

vernetztes Ganzes bildet, einen<br />

gestuften und gegliederten<br />

,Kosmos’ („Kosmos der Wirtschaft“).<br />

Es ist ein dynamisches Weltbild, das<br />

von wachstümlichen Kräften durchwirkt<br />

ist. Es wurde im Gang der vorliegenden<br />

Untersuchung zunächst faßbar<br />

in Herders progressionistischer<br />

Grundformulierung: ,Vom Stein zum<br />

Krystall, vom Krystall zu den Metallen,<br />

von <strong>die</strong>sen zu den Pflanzenschöpfungen...’<br />

(Sch 30), sodann in der analogen<br />

Struktur, <strong>die</strong> Goethes „Gesamtansicht<br />

der Natur“ zugrundeliegt (Sch<br />

41ff.) und in der Kosmos-Schau Humboldts<br />

(Sch 54). Auch der libertäre<br />

Aufbau des Herderschen Volksstaates<br />

(Sch 36) entspricht <strong>die</strong>sem Grundmuster.<br />

Zugleich gewinnt <strong>die</strong> Einheit von<br />

Kosmos-Schau und Reformarbeit, <strong>die</strong><br />

<strong>Reichwein</strong> mit Herder verbindet, in der<br />

hier unterbreiteten weltwirtschaftlichen<br />

Perspektive und Vision konkrete<br />

Gestalt. Die Parallele zwischen der<br />

Friedensutopie des ,Staatsmaschinen’-<br />

Kritikers und Anwalts einer natürlichen<br />

Lebensordnung der Völker und<br />

des Sozialisten, der als Korrektur an<br />

den Verwerfungen der kapitalistischen<br />

Wirtschaft auf <strong>die</strong> wachstümliche Entfaltung<br />

ordnender und aufbauender<br />

Kräfte setzt, ist unverkennbar“ (Sch<br />

249). Allerdings ist <strong>die</strong>se klare Aussage<br />

nicht zweifelsfrei deutbar und<br />

übertragbar, denn sie stützt sich nicht

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