„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
49<br />
Dorfname existiert seit einiger Zeit offiziell<br />
auch nicht mehr, ist aus dem<br />
Adressenverzeichnis verschwunden.<br />
Tiefensee wurde eingemeindet. Die<br />
ehemalige Schule und <strong>die</strong> Häuser der<br />
ehemaligen Schülerinnen in der <strong>Adolf</strong>-<br />
<strong>Reichwein</strong>-Straße liegen heute in<br />
Werneuchen. - Wehmut befällt mich.-<br />
Bedächtig nähere ich mich dem etwa<br />
500 m entfernten in einem Wäldchen<br />
und gegenüber eines riesigen Kornfelds<br />
gelegenen kleinen Friedhof, der<br />
eher wie ein größerer, grade noch<br />
überschaubarer Garten anmutet.<br />
Die Tür im Jägerzaum steht weit offen.<br />
Ein Schild mit der Todesanzeige<br />
ist an ihr befestigt.<br />
Auf der Wiese steht eine kleine Kapelle.<br />
Sie ist etwa 10m lang. An ihrem<br />
Kopfende stehen überraschend viele<br />
Menschen, etwa 60 jeden Alters, in<br />
kleineren Gruppen vereint. Freundliche,<br />
mitunter auch wissende Blicke<br />
begegnen mir, bis ich unter all <strong>die</strong>sen<br />
Gesichtern endlich das erste mir bekannte<br />
wahrnehme, wenn auch nicht<br />
sogleich in <strong>die</strong>ser für mich fremden<br />
Umgebung. Sie erkennt mich sofort<br />
und kommt strahlend auf mich zu,<br />
Inge Menzel, Hildegard Beckers Tochter.<br />
Unsere letzte Begegnung liegt ja<br />
noch nicht lange zurück. Wir umarmen<br />
uns warmherzig und dankbar.<br />
Beim Vorstellen spricht sie den Namen<br />
<strong>Reichwein</strong> mit einem liebevollen<br />
und ehrfurchtsvollen Unterton. Einige<br />
nicken verstehend. Jetzt fühle ich<br />
mich aufgenommen.<br />
Inzwischen hat sich <strong>die</strong> kleine Kapelle<br />
gefüllt, in der nur wenige Besucher<br />
Platz finden. Ganz unüblich sitzen <strong>die</strong><br />
Familienmitglieder nicht frontal zum<br />
Sarg in Reihen hintereinander, sondern<br />
auf zwei langgestreckten Bänken<br />
an den seitlichen Wänden, einander<br />
gegenüber sitzend und über den Sarg<br />
in ihrer Mitte sich anschauend – ein<br />
besonderes, ein dörfliches Bild, wie<br />
aus einer früheren Zeit.<br />
Die Familienmitglieder sind zahlreich<br />
erschienen, auch von weiter hergekommen.<br />
Wir geladenen Gäste stehen<br />
vor der geöffneten Kapelle und werden<br />
einbezogen. Gemeinsam singen<br />
wir das „Feierabendlied“ (von Hildegard<br />
Becker ausdrücklich gewünscht),<br />
„Lobet den Herrn“ und „So nimm<br />
denn meine Hände“.<br />
Der junge Pfarrer Frank Städler<br />
spricht ausführlich, anrührend, einfach<br />
und sehr persönlich über das Leben<br />
von Hildegard Becker, erzählt<br />
auch von ihrer Schulzeit, <strong>die</strong> sie nachhaltig<br />
beeinflusst hätte, und von ihrem<br />
ehemaligen Lehrer <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>,<br />
der eine entscheidende Rolle in<br />
ihrem Leben gespielt habe, den sie<br />
sehr verehrte. Auch den langen<br />
Spruch, den er in ihr Poesiealbum geschrieben<br />
hatte, zitiert er. Hildegard<br />
Becker sagte ihn <strong>immer</strong> wieder auswendig<br />
auf, mit besonderer Inbrunst<br />
am 95. Geburtstag meiner Mutter, <strong>die</strong><br />
sie auch sehr schätzte - bis zu ihrem<br />
Lebensende - bedächtig, ehrfürchtig,<br />
„mit Betonung“.<br />
Während der Sarg schließlich in <strong>die</strong><br />
Erdgrube sinkt, improvisiert in einiger<br />
Entfernung ein Trompetenspieler<br />
noch einmal das „Feierabendlied“ und<br />
„Il silencio“,<br />
sehr schön und bewegend. Mit etwas<br />
Erde fliegt der von mir gefaltete und<br />
beschriftete Origami-Kranich mit unseren<br />
guten Wünschen zu ihr ins<br />
Grab.- Nach der Grablegungs-<br />
Zeremonie laufen <strong>die</strong> meisten Gäste<br />
zum Restaurant „Spitzkrug“. Inge<br />
Menzel lädt auch mich ein und ich<br />
folge ihrer Bitte nur zu gerne, mich<br />
auf den ihr gegenüber liegenden Platz<br />
am langen Tisch zu setzen. Besonders<br />
mit ihr möchte ich mich austauschen.<br />
Pfarrer Frank Städler kommt an unseren<br />
Tisch und bittet um den Platz neben<br />
mir. Darüber freue ich ebenso,<br />
weil ich an einem Gespräch mit ihm<br />
auch sehr interessiert bin. Ingeborg<br />
Menzels Mann und Familie kommen<br />
hinzu. Sie sagen mir, wie sehr sie sich<br />
über mein Kommen freuen, auch als<br />
Vertreterin für meine Geschwister<br />
und <strong>die</strong> Mitglieder des <strong>Adolf</strong>-<br />
<strong>Reichwein</strong>-<strong>Verein</strong>s.<br />
Die belegten Brötchen hat <strong>die</strong> Familie<br />
selbst mitgebracht. Mit dem Besitzer<br />
des „Spitzkrug“ hatte sie zuvor vereinbart,<br />
dass er lediglich für <strong>die</strong> Getränke<br />
sorgen würde. Unser Zusammensein<br />
in eher fröhlicher und entspannter<br />
Atmosphäre wird weniger<br />
durch ein anspruchsvolles Essen bestimmt,<br />
als vielmehr durch intensive<br />
persönliche Gespräche miteinander.<br />
Pfarrer Frank Städler war aus der<br />
Großstadt Berlin aufs Land gekommen<br />
und betreut nun acht Dörfer. Er<br />
fühlt sich gut unterer den Menschen<br />
und arbeitet gerne hier.<br />
Ihn interessiert z.B. am meisten, ob<br />
das Leben meiner Familie nach dem<br />
Tod meines Vaters „widersprüchlich“<br />
und „schwierig“ gewesen sei. Er bemüht<br />
sich, sich in unsere damalige Situation<br />
hinein zu versetzen.<br />
Unumwunden gibt er zu, nicht viel<br />
über den damaligen Widerstand und<br />
den „Kreisauer Kreis“ zu wissen. Drum<br />
ist er auf angenehme natürliche Art<br />
wissbegierig, an Details der Familiengeschichten<br />
aus <strong>die</strong>sem Kreis interessiert.<br />
Beim Abschied am Abend bekomme<br />
ich eine große Tüte mit dunklen Kirschen<br />
aus dem Garten hinter dem<br />
Haus mit auf den Weg. Gerührt und<br />
dankbar nehme ich sie entgegen. Sie<br />
schmeckten so lecker, dass ich sie<br />
während der Heimfahrt fast vollständig<br />
aufesse.<br />
Ich denke, dass Hildegard Kaliebe,<br />
verheiratete Becker, in deren Leben<br />
Kirschen stets eine wichtige Rolle<br />
spielten, mich dabei zufrieden und<br />
nachsichtig lächelnd beobachtet.Hildegard<br />
Becker starb nur vier<br />
Monate nach ihrem 90. Geburtstag,<br />
den sie unbedingt noch im Kreis ihrer<br />
Familie erleben wollte. „Ich habe liebe<br />
Kinder, <strong>die</strong> gut zu mir sind. Ja,<br />
meine Familie sorgt gut für mich“,<br />
hatte sie wiederholt zu mir gesagt. In<br />
der Stunde ihres Todes waren ihre<br />
Tochter mit ihrem Mann bei ihr, durfte<br />
sie sich von ihnen getragen fühlen.Nach<br />
unserem Gespräch im Oktober<br />
2010, das Konrad Vanja, Lothar<br />
Kunz und ich mit ihr und ihrer Familie<br />
führten, hatten wir den starken<br />
Wunsch, sie noch einmal besuchen zu<br />
dürfen, ahnten allerdings schon, dass<br />
es dazu vielleicht nicht mehr kommen<br />
würde. Tatsächlich wurde sie in den<br />
kommenden Monaten <strong>immer</strong> schwächer,<br />
erblindete zunehmend, zog sich<br />
mehr und mehr in sich zurück und<br />
musste vor ihrem Geburtstag noch in<br />
einem Pflegeheim untergebracht