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„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein

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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />

57<br />

Ich schließe meine bisherigen Ausführungen<br />

mit einer Leseempfehlung, der<br />

ich auch als Rezensent gefolgt bin: Die<br />

Kapitelfolge ändern, aber das Buch<br />

von Schernikau in derselben Haltung<br />

'produktiver Rezeption' lesen – wie<br />

Schernikau selber sein Buch über<br />

<strong>Reichwein</strong> geschrieben hat.<br />

3. „ ... aus dem Geist der Deutschen<br />

Klassik“:<br />

Herder-Goethe-Humboldt – und ein<br />

Vorblick auf <strong>Reichwein</strong><br />

1. Trotz der eindeutigen Titelankündigung<br />

war ich überrascht, nach<br />

Schernikaus biografischem Vorspann<br />

nicht <strong>Reichwein</strong> zu begegnen, sondern<br />

Herder, der mit einem erhellenden<br />

Blochmann-Zitat eingeführt wird.<br />

– Es ist eine charakteristische Stärke<br />

<strong>die</strong>ses vielstimmigen Buches, daß<br />

Schernikau sich und uns Zeit gibt für<br />

viele exzellent ausgewählte einläßliche<br />

Zitate; auch ich will es hier nicht<br />

übergehen: „Herders Reisejournal ist<br />

nicht eine ruhig fortlaufende Darstellung<br />

von Reiseeindrücken und -<br />

erfahrungen wie etwa Goethes Italienische<br />

Reise, sondern <strong>die</strong>se höchst<br />

bewegten Aufzeichnungen sind wie<br />

Akte eines leidenschaftlichen inneren<br />

Dramas – der seelisch-geistigen Umwandlung,<br />

<strong>die</strong> ein junger Mensch in<br />

den kurzen Wochen einer Seefahrt,<br />

plötzlich losgelöst von dem Gleichmaß<br />

eines früh verantwortungsbeladenen<br />

Lebens, erfährt. Was hier im Sommer<br />

1769 in dem jungen Herder vorgeht,<br />

ist symptomatisch für den Wandel der<br />

Zeit. Es gibt kein Dokument, das uns<br />

unmittelbarer <strong>die</strong> Renaissance jener<br />

Tage, das Lebensgefühl und <strong>die</strong> Lebensstellung<br />

der Generation des<br />

Sturm und Drang enthüllte. Die Unmittelbarkeit<br />

ist deswegen so groß,<br />

weil der junge Herder sich noch nicht<br />

als Glied einer neuen Generation fühlt,<br />

weil nichts noch von den neuen Klarheiten,<br />

<strong>die</strong> er sucht, Theorie und Besitz<br />

einer Gruppe geworden ist. Ganz einsam<br />

ist er, ein Mensch auf dem<br />

schwankenden Segelschiff mitten im<br />

weiten Meer, dem mit seinem alten<br />

Leben, dem er entflieht, das Leben<br />

überhaupt, aller feste innere Besitz zu<br />

entgleiten scheint. Und so auf sich<br />

selbst verwiesen, erringt er den großen<br />

Zusammenhang des Lebens und<br />

der Geschichte, sich selbst, den Menschen<br />

und den Sinn seines Seins von<br />

neuem und ergreift ihn mit einer visionären<br />

Leidenschaft, <strong>die</strong> durch das Ineinander<br />

von Philosophie, Meer, Wind<br />

und Schiff auch heute noch den eigenen<br />

Zauber jugendlichen Empfindens<br />

ausströmt.“ (Blochmann, nach Sch 32)<br />

Das junge, brausende Genie<br />

schwärmt, erträumt und erdichtet als<br />

Twen eine umfassende Weltbilddarstellung.<br />

Zehn Jahre später steckt der<br />

Dreißiger das Terrain sorgfältig ab.<br />

Und nochmals zehn Jahre später hat<br />

Herder in seinen vierziger Jahren tatsächlich<br />

seine umfassende Weltgeschichte<br />

vorgelegt: Mit der Stellung<br />

der Erde im Sonnensystem beginnend,<br />

durch <strong>die</strong> Volkskunde von Feuerland<br />

bis Kamtschatka und durch <strong>die</strong><br />

Geschichte von Babylon und Ägypten<br />

über Griechenland und Rom bis zur<br />

Renaissance und Reformation, nur<br />

der letzte Teil bis zur Gegenwart am<br />

Vorabend der Französischen Revolution<br />

bleibt ungeschrieben. Auch wer<br />

Herder schon kennt, liest Schernikaus<br />

knappes und dichtes, farbiges und<br />

plastisches Herderporträt mit seinen<br />

treffsicher ausgewählten Primär- und<br />

Sekundärzitaten mit Freude und Gewinn<br />

gleich zweimal; es ist ja – kaum<br />

zu glauben – bloß 15 Seiten kurz. Nun<br />

gut, das also ist Herder, wir sehen ihn<br />

vor uns.<br />

2. Und nun kommt <strong>Reichwein</strong>? Nein,<br />

jetzt kommt Goethe! Nun gut, wenn<br />

Schernikau uns einen so lebendigen<br />

Herder nahebringen konnte, dann<br />

wollen wir ihm auch zu Goethe folgen.<br />

Und wir werden nicht enttäuscht.<br />

Schernikau holt mit Flitner<br />

den verlorengegangenen Goethe-<br />

Roman über das Weltall hervor und<br />

vor unseren Augen baut sich Goethes<br />

kosmische Weltordnung auf – Hintergrund<br />

jener rauschenden Verse aus<br />

dem Faust-Prolog. Ein Weltbild allerdings<br />

– erinnert ein (wiederum exzellent<br />

aufgespürtes) Weizsäcker-Zitat,<br />

das Goethe sich mit allen Sinnen<br />

selbst erworben hat: „Da für Goethe<br />

so viel darauf ankommt, <strong>die</strong> sinnliche<br />

Erfahrung selbst zu machen, sollten<br />

wir uns vergegenwärtigen, wie er<br />

selbst sinnlich erfahren hat und erfahren<br />

wollte ( ... ). Das Flüssigste und<br />

das Trockenste in Goethes Wesen, <strong>die</strong><br />

hinreißende Empfindung des Augenblicks<br />

und <strong>die</strong> Neigung zum Sammeln<br />

und Ordnen, sie streben eins zu werden<br />

in <strong>die</strong>sem sicheren und geschmeidigen<br />

Wandeln, <strong>die</strong>sem freudigen<br />

Bemerken, das den Schatz seiner sinnlichen<br />

Erfahrung von Tag zu Tag<br />

mehrt. Wieviele Steine hat er mit dem<br />

Geologenhammer selbst vom gewachsenen<br />

Fels losgeklopft! Wieviele<br />

Blumen und Bäume hat er auf Reisen<br />

betrachtet, zu Hause gezogen; wie<br />

viele Knochengerüste selbst angeschaut<br />

und betastet! Wie treten ihm<br />

bei jedem Blick in <strong>die</strong> Natur <strong>die</strong> Erscheinungen<br />

der Farbe von selbst entgegen<br />

und werden, sei es auch unter<br />

Kriegslärm oder im Liebesgedicht des<br />

Divan, genau bemerkt und beschrieben!<br />

Nicht nur <strong>die</strong> glücklichen Augen<br />

nahmen <strong>die</strong>se Fülle auf; wandernd,<br />

reitend, kletternd, schwimmend erfuhr<br />

sein Leib <strong>die</strong> Natur. Und wer<br />

könnte Goethe verstehen, der nicht<br />

wüßte, wie nahe alles Sinnliche der<br />

Liebe ist?“ (Weizsäcker 1994, nach<br />

Sch 79) Und mit <strong>die</strong>sem Weltbildrahmen<br />

geht es nun weiter zu Goethes<br />

Italienischer Reise und wir begleiten<br />

ihn in seinem Bildungsprozeß<br />

bis zur Entdeckung der Pflanzenmetamorphose<br />

– dem Urbild der Bildung:<br />

„Geprägte Form, <strong>die</strong> lebend sich entwickelt.“<br />

Und auch <strong>die</strong>se knappen und<br />

gleichwohl ruhigen und reichhaltigen<br />

15 Seiten mag man genussvoll gleich<br />

zweimal lesen.<br />

3. Inzwischen ist klar, daß jetzt <strong>immer</strong><br />

noch nicht <strong>Reichwein</strong> kommen wird:<br />

Aller guten Geister sind drei. Jetzt<br />

kommt Alexander von Humboldt: Wir<br />

erklettern mit ihm den Chimborazzo<br />

und entdecken dabei <strong>die</strong> Entsprechung<br />

der Höhenstufen und Klimazonen<br />

der Erde, lernen <strong>die</strong> hundertfachen<br />

quantitativen Messdaten einzuschmelzen<br />

und zu verdichten in qualitative<br />

„Ansichten der Natur“, lernen<br />

den republikanisch-aufklärerisch gesonnenen<br />

Weltbürger standhalten<br />

und gegensteuern am restaurativen

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