„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein

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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012 60 gegen die Megafälschung des vorgeblichen „Nationalsozialismus“: 1. Für die drei Klassiker wird die politische Dimension und Position bereits im ersten Kapitel, im Weltbild-Kapitel umrissen: Herders Fundamentalkritik der kalten und großen Staatsmaschinen sowie seine Kritik am Kolonialismus und am Naturraubbau. Goethes sozialpolitisch feine Witterung für das Heraufkommen des Maschinenwesens sowie sein bedauerliches Unverständnis für die berechtigten Grundimpulse der Französischen Revolution. Schließlich A. v. Humboldts beharrliche und geschmeidige Förderung der westeuropäischen aufklärerisch-weltbürgerlichen Grundideen. Ebenfalls war bereits Reichweins Impuls und Horizont als „planetarischer Europäer“ und „europäischer Planetarier“ grundiert. 2. Auf diesem Hintergrund zeichnet das Politikkapitel „die Einordnung des Schulmodells in die Geschichte des nationalen Sozialismus in Deutschland“ – verankert in Reichweins eigener Einleitung, in der er sich als „Deutscher Sozialist“ deklariert. – Wie bitte: Reichwein ein Deutscher Sozialist? Also ein Nationaler Sozialist? Reichwein ein Nationalsozialist? Diesem (entsetzlichen und absurden) Verdacht muß sich jeder Leser stellen, auch der politik- und zeitgeschichtlich aufgeklärte Leser, der die damals konkret allzuoft unberechenbare und doch rasiermesserscharfe und lebensgefährliche Unterscheidung zwischen Nationalem Sozialismus und Nationalsozialismus bereits kennt. Ich selbst erinnere mich noch genau an die befreiende Aufklärung, die mir seinerzeit Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ (1978) brachte: Den Nachweis, daß Hitler im Gegensatz zu seiner irreführenden Programmatik faktisch eine zutiefst antinationale und antisozialistische Politik betrieb, daß also Hitlers National-Sozialismus eine gigantische Doppelfälschung war. Schernikau setzt diese Grundinformation voraus und entwickelt die Geschichte des wahren (freiheitlichen, demokratischen) nationalen Sozialismus in drei Schritten: Zunächst die Vorgeschichte samt Umfeld 1860-1930, sodann Reichweins Beiträge vor 1933, schließlich in Tiefensee nach 1933. Reichweins Position – artikuliert in seinen beiden Grundsatzartikeln („Gilde“, „Marx“) – wird sorgfältig verortet im ausdifferenzierten Spektrum der Fraktionen. Dabei wird immer schärfer die zweischneidige Frontstellung sichtbar und existentiell fühlbar: Einerseits nicht mit den übermächtigen nationalsozialistischen Fälschern mitmarschieren, andrerseits nicht tatenlos im Abseits stehen, sondern den (riskanten und zugleich faszinierenden) eigenen Weg zu gehen versuchen. 3. Reichweins Tiefenseer Schulmodell als didaktische und schulpädagogische Suche nach einem dritten Weg: In der realistischen Wende der Reformpädagogik hatten ja Martin Buber: Rede über das Erzieherische 1925 („Weder Trichter noch Pumpe“), Kurt Zeidler: Die Wiederentdeckung der Grenze 1926, und Theodor Litt: Führen und Wachsenlassen 1927 bereits Wegweiser aufgestellt. Aber der neue Dritte Weg mußte nun unter viel schwierigeren Bedingungen schulpraktisch realisiert werden: „Es bestand für kurze Zeit eine Gefahr, daß man mit dem Drill zugleich die Berufung zu Dienst und Disziplin verwerfe. Man wollte das Fahrzeug erleichtern, flottmachen, aber man ging zu weit. Plötzlich fehlte der Tiefgang, der Kielführung und Kurs erst möglich macht. Es bestand Gefahr, und nicht nur in der Schule, das Kind ganz auf sich, sein angeborenes Schöpfertum zu begründen. Hatte man vordem das Kind für außer ihm liegende Zwecke geschult, so wollte man ihm nun das freie Spiel seiner Kräfte lassen. Gehorsam hob sich innerlich von selbst auf. Solche Zwischenversuche einer angeblich entfesselten Erziehung gründeten in einer falsch begriffenen
eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012 61 Freiheit. Stießen wir vordem auf die Fragwürdigkeit eines allzu eng gefaßten Gehorsams, so stoßen wir hier auf die Brüchigkeit einer zu flach begründeten Freiheit.“ (R 152) Dieses „weder-noch-sondern“ der Unterrichtsgestaltung, mit der sich Reichwein in eine zunehmend dunkler und gefährlicher werdende Zukunft vorantastete, wird sichtbar und ergreifend fühlbar in Schernikaus Darstellung. „Es zeichnet sich insgesamt die schulpädagogische Visitenkarte eines Lehrers ab, der sich als deutscher Sozialist darin ausweist, dass er ‚Sozialismus’ nicht theoretisch vermittelt, sondern als Lebensform im Zusammenhang mit der Durchführung der (Werk-)Vorhaben und durch die Verbindung von Arbeit, Lernen und Leben. Der Leitspruch ‚Das gemeinsame Werk schafft die Gemeinschaft’ Kaweraus, der uns im Abschnitt über die revolutionären Geschichtsdidaktiker des Jahres 1918 begegnete, gilt auch für die kleine dörfliche Produktions- und Lebensgemeinschaftsschule aus Tiefensee“ (Sch 325f). 6. Fünfmal von Weimar I nach Weimar II : Hundertjährige Durchgänge von der deutschen Klassik bis zu Reichwein durch fünf Fachdidaktiken: Biologie – Geografie – Volkskunde – Geschichte – Heimatkunde 1. Nun erst folgen wir Schernikau auf seinem sehr sorgfältigen, sehr kenntnisreichen und genauen (aber auch etwas mühsamen) lehrplangeschichtlichen Gang durch die fünf einschlägigen Fachdidaktiken (Biologie- Geografie-Volkskunde-Geschichte- Heimatkunde) von den Klassikern bis Reichwein. Jedesmal können wir verfolgen, wie die Klassiker den Staffettenstab zuerst geschnitzt und dann weitergereicht haben und wie er in den vier, fünf Generationen verändert wurde, bis Reichwein ihn übernahm. – Allerdings: Die fünf Längsschnitte sind erstens nicht als Rezeptionsstudien angelegt, sie zeigen nicht, was Reichwein aus diesen Entwicklungsgängen sich angeeignet hat, sie beschreiben diese Entwicklungen nicht aus der Sicht Reichweins, sondern aus Historikersicht. Zweitens wollen und können sie natürlich noch weniger zeigen, wie die Entsprechungen zwischen den Klassikern und Reichwein zustande gekommen sind; aber sie machen deutlich, daß Reichwein seine Klassikerverbundenheit aus anderen Quellen geschöpft haben muß. Was aber tragen sie dann zum Reichweinverständnis und zur These der Doppelfundierung bei? Jedes dieser fachdidaktischen Längsschnitt-Kapitel mündet in die Schlußfrage „...und Reichwein?“ Und wir sehen, wie der Reformpädagoge Reichwein angesichts des ihm gegenwärtigen Problemstandes der Fachdidaktiken mit sicherem Gespür erstaunlicherweise auch neue Lösungen „im Geist der Deutschen Klassik“ findet – wie und woher, das mögen die Götter wissen. 2. Insgesamt können diese fünf Durchgänge zu spannenden Übungen werden, wenn wir uns als Leser vor der jeweiligen Problemlösung Reichweins selber die Frage stellen: was wäre denn meine eigene reformpädagogische Problemlösung im Sinne von Herder/Goethe/Humboldt? Als Zusammenfassung eine Perspektive zur Weiterarbeit: Lehrkunst nach Wagenschein/Klafki und/oder nach Reichwein? Seit 25 Jahren haben wir im Lehrkunst-Ensemble 10 von den rund 40 Unterrichtsexempeln Wagenscheins nicht nur interpretiert, sondern über 100mal im Unterricht neu inszeniert. Bei Reichweins Unterrichtseinheiten ist das bislang noch nicht geschehen. Als Sprungbrett zu einer künftig selbständigen Unterrichtsinszenierung von Reichweins Unterrichtseinheiten nehmen wir uns daher zunächst sachlich verwandte Lehrstücke nach Wagenschein/Klafki vor – die zehn Thurgauer Volksschul-Lehrstücke (Berg/Wildhirt u.a. 2004) – und fragen nach den Beiträgen und Vorschlägen Reichweins dazu. Anstoß und Grundlage unserer Beratungen ist Schernikaus Reichweinbuch, ein großer und kühner Wurf, der für die Reichweinrezeption in der Unterrichts- und Schulentwicklung neue Horizonte eröffnet. Denn mit diesem Buch über Reichweins Goethe-Schule in Tiefensee hat Schernikau für unsere gegenwärtige und künftige Bildungslandschaft einen heilkräftigen Brunnen erschlossen mit seinem tiefgründigen und hellsichtigen Aufweis der Doppelfundierung von Reichweins Schulmodell in Weimar I und Weimar II, in der Deutschen Klassik und in der Reformpädagogik – ein ermutigendes, orientierendes und stärkendes Meisterwerk! Literatur Hans Christoph Berg: Lehrkunst im Traditionsstrom – dank Wagenschein 1986. In: Berg 2009, S. 22-27. Hans Christoph Berg: Den Bogen spannen. Reichweins neue Aktualität. In: Adolf Reichwein: Schaffendes Schulvolk – Film in der Schule. Die Tiefenseer Schulschriften – Kommentierte Neuausgabe 2 2009, S. 364- 374. Hans Christoph Berg/Ullrich Amlung: „...und Reichwein mittendrin“. Was sagen heutige Schulreformer zu Reichwein – was sagt Reichwein zu heutigen Schulreformern? In: Die Deutsche Schule 3/1988, S. 276-298.: Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft? Denkschrift der Kommission «Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft» beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein- Westfalen/Bildungskommission NRW. Neuwied, Luchterhand 1995. Elisabeth Blochmann: Vorwort. In: Herders Reisejournal. Berlin o. J. Hans Bohnenkamp: Gedanken an Adolf Reichwein. Braunschweig 1949 Martin Buber: Über das Erzieherische, 1925. In: Flitner, Wilhelm (Hrsg.): Die Erziehung. Pädagogen und Philosophen über die Erziehung und ihre Probleme. Bremen, Schünemann 1953, S 496-505. Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler. Frankfurt, 1981 Kurt Hahn: Rückblick auf Salem und Gordonstoun, 1950. In: Wilhelm Flitner/Gerhard Kudritzki (Hrsg.): Die Deutsche Reformpädagogik I. Düsseldorf, Küpper/Bondi 2 1967, S. 93-98 Hans-Joachim von Koerber: Die Wirtschaft als Aufgabe im Sinne Adolf Reichweins. In:
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