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„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein

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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />

46<br />

oder nicht, <strong>die</strong> Bisexuellen nicht zu<br />

erwähnen. Nur in einer Fußnote auf S.<br />

443 erfährt man erstaunt, dass auch<br />

C.H. Becker und E.R. Curtius in B.U.<br />

Hegemöllers Lexikon prominenter<br />

deutscher Homosexueller als solche<br />

geführt werden. Es ist aber gerade<br />

<strong>die</strong>se Komponente, <strong>die</strong> noch bei dem<br />

Skandal um <strong>die</strong> pädophilen bzw. homosexuellen<br />

Übergriffe und Mißbrauchsfälle<br />

an der Odenwaldschule<br />

im Jahr 2009/10 eine wichtige Rolle<br />

gespielt hat, an deren Entstehung Anfang<br />

der 1970er Jahre auch ein paar<br />

Personen beteiligt waren, <strong>die</strong> man als<br />

„Georgeaner“ betrachten kann, nämlich<br />

Hellmut Becker und Hartmut von<br />

Hentig. Insofern ist das Buch von<br />

Raulff über das Nachleben des George-Kreises<br />

zur rechten Zeit erschienen<br />

und durchaus aktuell. Raulff spricht in<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang nebenbei und<br />

ziemlich salopp von der „griechischen<br />

Chiffrierung“ und dem „Hellas-Code“,<br />

der im George-Kreis üblich war und<br />

dort vertreten wurde. (S. 365) Dies ist<br />

aber genau <strong>die</strong> gleiche Chiffre, der<br />

gleiche Code, den auch Hartmut von<br />

Hentig und sein Lieblingsschüler Gerold<br />

Becker, der von 1972 bis 1985<br />

Leiter der Odenwaldschule war, verwendet<br />

und gesprochen haben.<br />

Das zweite ist, dass es im George-<br />

Kreis, der ja weitestgehend aus jungen,<br />

aufstrebenden oder schon erfolgreichen<br />

Männern aus dem deutschen<br />

„Bildungsbürgertum“ und dem<br />

Adel bestand (Frauen waren ein kleine<br />

Minderheit), nach dem Tod „des<br />

Meisters“ im Dezember 1933 während<br />

der Nazi-Zeit genau <strong>die</strong> gleichen<br />

politischen Auseinandersetzungen<br />

und Konflikte gab wie in der übrigen<br />

deutschen Bevölkerung, wenn auch<br />

mit anderen quantitativen Verhältnissen.<br />

Das lag nicht zuletzt daran, dass<br />

sich „der Meister“ zu der heraufziehenden<br />

nationalsozialistischen „Hitlerbewegung“<br />

nie eindeutig geäußert<br />

hat, <strong>die</strong> natürlich mit seinem „geheimen<br />

Deutschland (Reich, Staat)“ der<br />

Dichter und Denker nichts zu tun hatte.<br />

Es gab offenbar im George-Kreis<br />

von Anfang an Hitler- und Nazi-<br />

Gegner, meistens natürlich jüdischer<br />

Herkunft, <strong>die</strong> auch zum großen Teil<br />

emigrierten, es gab auch <strong>die</strong> Sympathisanten<br />

und Anhänger der „neuen<br />

Bewegung“, <strong>die</strong> natürlich im Lande<br />

blieben und zum Teil auch Karriere<br />

machten, zu denen anfangs auch, wie<br />

man weiß, <strong>die</strong> drei Stauffenberg-<br />

Brüder und ein paar andere gehörten,<br />

und es gab ein breites, graues Spektrum<br />

von Unentschiedenen und<br />

Schwankenden, <strong>die</strong> sich irgendwie mit<br />

dem neuen System arrangierten oder<br />

später doch emigrierten. Das alles<br />

hat George, der ja nicht älter als 65<br />

Jahre wurde, in seinem Umkreis toleriert.<br />

Auffallend ist auch, dass man<br />

sich in <strong>die</strong>sem bildungsbürgerlichen<br />

Milieu, wenn man gut miteinander<br />

bekannt oder befreundet war, nicht<br />

bei den Nazi-Machthabern denunzierte,<br />

sondern eher den Kontakt und <strong>die</strong><br />

Beziehungen abbrach und beendete.<br />

Nach der Niederlage und dem Zusammenbruch<br />

des NS-Systems fing<br />

dann <strong>die</strong> Auseinandersetzung um <strong>die</strong><br />

richtige Interpretation der Botschaft<br />

„des Meisters“ von neuem an, zumal<br />

er und sein Kreis mit ihren elitären<br />

und autoritären Ansichten nun unter<br />

dem Verdacht des Präfaschismus<br />

standen.<br />

Als Drittes ist mir aufgefallen, dass<br />

sich in den 1920er Jahren der George-<br />

Kreis und der Kreis gebildeter und<br />

aufstrebender junger Männer, den<br />

C.H. Becker in seinem Ministerium<br />

und durch seine Berufungspolitik an<br />

den deutschen Universitäten um sich<br />

gesammelt hat, <strong>die</strong> sogenannten „Beckerjungens“,<br />

auf eigentümliche Weise<br />

überschnitten und vermischt haben.<br />

Zu <strong>die</strong>sen Becker-Jungens gehörte<br />

ja auch <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>. Es gab einige<br />

unter <strong>die</strong>sen jungen Männern,<br />

<strong>die</strong> sowohl zu dem einen wie zu dem<br />

anderen Kreis gerechnet werden können.<br />

Bei Raulff findet sich sogar <strong>die</strong> Bemerkung,<br />

dass C.H. Becker in den<br />

1920er Jahren eine Art „Schutzmantelmadonna“<br />

für <strong>die</strong> Georgeaner gewesen<br />

sei (S. 442, Anm. 35) , und er<br />

nennt auch einige Beispiele dafür. Im<br />

übrigen war das alles, wie man weiß,<br />

nicht zum Nachteil der preußischen<br />

und deutschen Kultur- und Bildungspolitik<br />

der Weimarer Republik, ganz<br />

im Gegenteil.<br />

Was nun <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>s Verhältnis<br />

zu Stefan George und dem George-<br />

Kreis betrifft, so hat Harro Siegel, ein<br />

Georgeaner und enger Freund des<br />

sehr viel älteren C.H. Becker, darüber<br />

ziemlich erschöpfend Auskunft gegeben:<br />

„Bei oft ausgesprochener Kritik<br />

an einzelnen Mitgliedern des sog.<br />

George-Kreises, bei aller Ferne seiner<br />

geistigen Haltung von der des Dichters<br />

und der seinen – gab es bei A.R.<br />

keine Kritik an St.G. selber – wenn er<br />

auch nie über <strong>die</strong> Begegnung und das<br />

etwa gehabte Gespräch sich auslassen<br />

wollte.“ (erster Briefband, S.305) Ähnliches<br />

berichtet Raulff aber auch über<br />

richtige, echte Georgeaner. Offenbar<br />

gelang es Stefan George <strong>immer</strong>, man<br />

weiß nicht wie, <strong>die</strong> jungen Männer,<br />

denen er <strong>die</strong> Gunst einer Begegnung<br />

und eines Gesprächs mit ihm gewährte,<br />

zum Schweigen zu verdonnern und<br />

ein Tabu um sich zu errichten. Die<br />

Feststellung Harro Siegels erinnert<br />

mich auch daran, dass er mir einmal<br />

sagte, er habe nie gewusst, wie nahe<br />

er eigentlich <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>, unter<br />

all seinen Freunden, gestanden habe.<br />

Vielleicht ging es ihm dabei auch um<br />

<strong>die</strong>sen Punkt, d.h. um <strong>Reichwein</strong>s Beziehung<br />

zu Stefan George und seine<br />

Weigerung, über <strong>die</strong> George-<br />

Begegnung Auskunft zu geben. Anderere<br />

Freunde <strong>Reichwein</strong>s, der französische<br />

Diplomat Pierre Vienot bzw.<br />

seine Frau Andree Mayrisch äußerten<br />

sich zu <strong>die</strong>ser Frage 1972 anders und<br />

etwas freier: „ In meiner Erinnerung<br />

bleibt <strong>Reichwein</strong> wie eine Synthese<br />

aus dem Geist des 'George-Kreises'<br />

und des Sozialismus, eine besonders<br />

liebenswerte Figur.“ (erster Briefband,<br />

S. 323, Übersetzung von mir)<br />

Genau das könnte stimmen.<br />

Das Buch von Raulff ist jedenfalls interessant<br />

und aufschlussreich für alle,<br />

<strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Geistes-, Kultur- und<br />

Bildungsgeschichte Deutschlands im<br />

20. Jh. und für das geistige Milieu interessieren,<br />

in dem <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong><br />

nach dem 1. Weltkrieg erwachsen

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