„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
34<br />
drohte Verhaftung, Anklage und Verurteilung<br />
mindestens zu Lagerhaft.<br />
Die Hauptgefahr war fahrlässiger Verrat<br />
oder vorsätzliche Denunziation.<br />
Moltke, der – wie <strong>die</strong> Briefe an Freya<br />
zeigen – zweifellos der Kopf und der<br />
Motor des Kreises war, war außerdem<br />
lange der Auffassung, dass <strong>die</strong> preußisch-deutsche<br />
Generalität unter Hitler<br />
nicht in der Lage wäre, mitten im<br />
Krieg ein Attentat auf Hitler und einen<br />
Staatsstreich zu wagen, und dass eine<br />
solche Verkürzung des Hitlerregimes<br />
aus moralischen und politischen<br />
Gründen auch nicht ratsam wäre,<br />
dass <strong>die</strong> Deutschen <strong>die</strong>smal – anders<br />
als 1918 – <strong>die</strong> Niederlage und ihre<br />
Konsequenzen wirklich durchleiden<br />
müssten, um innerlich umkehren zu<br />
können und nicht wieder einer neuen<br />
„Dolchstoßlegende“ zu verfallen. Und<br />
<strong>die</strong>s war anscheinend bis zur Verhaftung<br />
Moltkes im Januar 1944 auch<br />
Konsens innerhalb des Kreises, wurde<br />
wahrscheinlich auch von <strong>Reichwein</strong><br />
akzeptiert. Kreisauer Dispute über<br />
<strong>die</strong>se Frage sind m.W. nicht bekannt.<br />
Erst nach Moltkes Verhaftung haben<br />
sich einige Mitglieder, darunter<br />
<strong>Reichwein</strong>, anders orientiert, fiel der<br />
Kreis gewissermaßen auseinander<br />
und verbanden sich einige Kreisauer<br />
stärker mit anderen Widerstandsgruppen.<br />
Die Rolle <strong>Reichwein</strong>s innerhalb des<br />
Kreises ist schwer zu rekonstruieren.<br />
Einerseits hat er Moltke und dem<br />
Kreis ein paar neue Mitglieder zugeführt,<br />
besonders <strong>die</strong> erfahrenen Sozialdemokraten<br />
Carlo Mierendorff und<br />
Theodor Haubach, und damit den<br />
„sozialistischen Flügel“ verstärkt, und<br />
sich auch sonst auf seinen zahlreichen<br />
Dienstreisen anscheinend darum bemüht,<br />
weitere Vertrauensleute und<br />
Unterstützer des Kreises zu gewinnen.<br />
Dass nach dem Tod Mierendorffs Julius<br />
Leber in den Kreis aufgenommen<br />
wurde, lag wahrscheinlich weniger an<br />
<strong>Reichwein</strong> als an Theo Haubach oder<br />
Peter von Yorck. Andererseits galt<br />
<strong>Reichwein</strong> bei Moltke und innerhalb<br />
des Kreises als Fachmann für Fragen<br />
der Erziehung, des Bildungs- und<br />
Schulsystems und in <strong>die</strong>ser Funktion<br />
ist er offenbar mit den Kirchenvertretern,<br />
besonders den katholischen, in<br />
Konflikt geraten. Seine wirtschaftsgeografischen<br />
und wirtschaftspolitischen<br />
Kompetenzen waren anscheinend<br />
nicht besonders gefragt, dafür<br />
gab es auch andere Fachleute, sind<br />
aber wahrscheinlich dennoch irgendwie<br />
in <strong>die</strong> Beratungen und in <strong>die</strong><br />
„Kreisauer Papiere“ eingeflossen.<br />
Wenn man sich <strong>die</strong> Vorstellungen der<br />
Kreisauer von einem neuen Nachkriegsdeutschland<br />
in den „Kreisauer<br />
Papieren“ ansieht, so kann man feststellen,<br />
dass in ihnen sowohl eine nationale<br />
als auch eine sozialistische<br />
Orientierung deutliche, spezifische<br />
Spuren hinterlassen haben. Die nationale<br />
Komponente kommt m.E. vor allem<br />
darin zum Ausdruck, dass <strong>die</strong><br />
Kreisauer – anders als z.B. der Goerdeler-Kreis,<br />
der im Rahmen herkömmlicher<br />
politischer Strukturen so viel<br />
wie möglich von der alten Größe<br />
Deutschlands retten wollte – für<br />
Deutschland eine völlig neue politische<br />
und demokratische Struktur und<br />
Verfassung „erfunden“ haben, für <strong>die</strong><br />
es m.W. kein historisches Beispiel<br />
gibt. In <strong>die</strong>sem Sinn haben sie also einen<br />
neuen „deutschen Sonderweg“<br />
geplant, der aber das alte europäische<br />
Nationalstaatsdenken gerade überwinden<br />
sollte, der also <strong>die</strong> Verständigung<br />
mit den europäischen Nachbarstaaten<br />
gerade erleichtern sollte. Die<br />
sozialistische Komponente kommt darin<br />
zum Ausdruck, dass der Konflikt<br />
zwischen Kapital und Arbeit, zwischen<br />
der Kapitalkonzentration in mächtigen<br />
Großkonzernen und Monopolen<br />
einerseits und mächtigen Gewerkschaftsverbänden<br />
andererseits abgebaut<br />
und entschärft werden sollte,<br />
und zwar a) durch Auflösung oder<br />
Verstaatlichung von Großkonzernen<br />
in zentralen Wirtschaftsbranchen,<br />
b) durch eine ziemlich strikte Wirtschaftslenkung<br />
von unten nach oben<br />
und umgekehrt, c) durch <strong>die</strong> Entmachtung<br />
der großen Gewerkschaftsverbände<br />
und <strong>die</strong> Einführung von „Betriebsgewerkschaften“,<br />
<strong>die</strong> auf betrieblicher<br />
Ebene stärker mitbestimmen<br />
sollten. Dies ging also in <strong>die</strong> Richtung<br />
von <strong>Reichwein</strong>s „Gildensozialismus“,<br />
Ideen, <strong>die</strong> auch schon Eugen<br />
Rosenstock und Willy Hellpach entwickelt<br />
hatten. Die Gewerkschaften sollten<br />
für den damit verbundenen<br />
Machtverlust dadurch entschädigt<br />
werden, dass ihnen neue sozialpolitische<br />
Aufgaben, besonders in der Sozialversicherung,<br />
übertragen werden<br />
sollten. Dies mag alles etwas paradox<br />
erscheinen und wird hier mit gebotener<br />
Vorsicht aus dem Gedächtnis vorgetragen.<br />
Eine genauere Überprüfung<br />
wäre sicherlich angebracht.<br />
Im Frühjahr 1944, nach der Verhaftung<br />
Moltkes, näherten sich einige<br />
Kreisauer infolge der Entwicklungen<br />
an der Ostfront und in Italien den militärischen<br />
Widerstandskreisen um<br />
Tresckow, Olbricht und Stauffenberg,<br />
besonders Yorck und Leber. Ein Attentat<br />
auf Hitler und ein militärischer<br />
Staatstreich schienen nun doch in den<br />
Bereich des Möglichen zu rücken.<br />
Während sich Yorck enger an <strong>die</strong><br />
Stauffenberg-Gruppe anschloss, reagierten<br />
<strong>Reichwein</strong> und Leber auf <strong>die</strong><br />
veränderte Lage, indem sie in Berlin<br />
Kontakt zum kommunistischen Widerstand<br />
im Untergrund aufnahmen,<br />
der seinerseits bestrebt war, sich von<br />
der Moskauer bzw. der stalinistischen<br />
Führung unabhängiger zu machen.<br />
Leber und <strong>Reichwein</strong> wollten offenbar<br />
für den Fall des Attentats und des<br />
Staatsstreichs <strong>die</strong> „Massenbasis“ des<br />
Widerstands, <strong>die</strong> es eigentlich nicht<br />
gab, <strong>die</strong> <strong>immer</strong> noch nicht vorhanden<br />
war, wenigstens verbreitern, obwohl<br />
ihnen andere Mitglieder des Kreises,<br />
z.B. Theo Haubach, von Kontakten zu<br />
den Kommunisten dringend abrieten.<br />
Man kann also wohl nicht behaupten,<br />
dass <strong>die</strong>s im Auftrag der Kreisauer geschah,<br />
eher vielleicht im Auftrag der<br />
Stauffenberg-Gruppe. Anscheinend<br />
bestand aber zwischen dem kommunistischen<br />
Widerstand und einigen<br />
Kreisauern ein gemeinsames Interesse<br />
daran, etwas Entscheidendes zu<br />
wagen, bevor <strong>die</strong> Alliierten <strong>die</strong> deutschen<br />
Grenzen erreichten und<br />
Deutschland tatsächlich besetzen<br />
konnten. Diese Gefahr wurde seit der<br />
Landung der Westalliierten in der<br />
Norman<strong>die</strong> am 6.6.1944 zunehmend<br />
real. Das Weitere ist bekannt. Mir<br />
geht es hier nur darum, darauf hinzu-