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„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein

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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />

32<br />

denspolitik mit den anderen europäischen<br />

Nationen zu beginnen.<br />

Andererseits – oder deshalb? - war er<br />

eben auch ein Sozialist, der den wildwüchsigen<br />

Kapitalismus unter eine<br />

politische, demokratische und planende<br />

Kontrolle bringen wollte, um<br />

dessen ungerechte, klassenspalterischen<br />

Folgen und Auswüchse<br />

zu reduzieren oder rückgängig zu machen.<br />

Deshalb war er auch ein Anhänger<br />

der Marx'schen Theorie, <strong>die</strong> er<br />

aber vor allem als eine wissenschaftliche,<br />

dialektische Methode zur Analyse<br />

der gesellschaftlichen Wirklichkeit<br />

verstand. Gegenüber der orthodoxmarxistischen<br />

Klassenkampf- und Revolutionsdoktrin<br />

war er jedoch skeptisch<br />

bis ablehnend eingestellt. Wie<br />

konnte man eine Strategie der Aufspaltung<br />

des Volkes zum Mittel seiner<br />

Versöhnung machen ? Welche Folgen<br />

könnte und würde eine sozialistische<br />

Revolution haben ? Wäre das nicht<br />

ein Verrat an den gewachsenen kulturellen<br />

Strukturen und Ordnungen des<br />

Volkes, der Nation, um deren Bewahrung<br />

und Weiterentwicklung es ihm<br />

doch ebenfalls ging ? Was konnte<br />

nach den bisherigen Erfahrungen mit<br />

Revolutionen Gutes aus ihnen entstehen<br />

? <strong>Reichwein</strong> setzte dagegen auf<br />

<strong>die</strong> Kultur des Volkes und der Nation<br />

und deshalb auch auf Bildung und Erziehung<br />

als <strong>die</strong> vermittelnden Elemente,<br />

<strong>die</strong> nach seiner Auffassung eine<br />

Überwindung der gesellschaftlichen<br />

Gegensätze und Konflikte möglich<br />

machen konnten. Insofern war<br />

<strong>Reichwein</strong> ein sozialistischer Reformist,<br />

ein „Revisionist“, wie das <strong>die</strong> orthodoxen<br />

Marxisten, besonders <strong>die</strong><br />

Kommunisten damals nannten, eben<br />

ein Sozialdemokrat, und zwar schon<br />

bevor er der SPD beitrat, und zwar<br />

eben auch ein patriotischer, national<br />

gesinnter. Die Bewahrung und Weiterentwicklung<br />

der nationalen Volkskultur<br />

war ihm wichtiger, als ein Umsturz,<br />

eine Revolution im Namen einer<br />

reinen Lehre, <strong>die</strong> ihm fragwürdig,<br />

nicht mehr up to date erschien.<br />

Wie und warum war es <strong>Adolf</strong> <strong>Reichwein</strong>,<br />

wenn er sich noch im Oktober<br />

1933 als „nationaler Sozialist“ verstand,<br />

dann doch möglich, in den subversiven<br />

Widerstand gegen den Nationalsozialismus<br />

Hitlers zu gehen ?<br />

Obwohl er dem Hitler-Faschismus<br />

schon Ende der 20er Jahre ablehnend<br />

gegenüberstand, hat er dafür doch<br />

einige Jahre gebraucht. Da war anscheinend<br />

vorher noch einiges zu klären.<br />

Was konnte er auch in der Hitler-<br />

Diktatur gegen sie tun, als Dorfschullehrer<br />

in Tiefensee ? Und wer weiß,<br />

ob es ohne seine vielen Kontakte und<br />

Freundschaften aus den 1920er Jahren<br />

und ohne den Umzug von Tiefensee<br />

nach Berlin so weit gekommen<br />

wäre. Man sollte im historischen<br />

Rückblick nicht den Fehler begehen,<br />

etwas als zwangsläufig zu betrachten,<br />

was - jedenfalls auf der individuellen,<br />

subjektiven Ebene - nicht zwangsläufig<br />

war.<br />

4.<br />

Es gibt nur ganz wenige schriftliche,<br />

briefliche und andere Dokumente von<br />

<strong>Reichwein</strong>, <strong>die</strong> hier weiterhelfen und<br />

etwas Aufschluss geben können. Eine<br />

Quelle ist der Brief an Ernst Robert<br />

Curtius vom 28.11.1931, eine andere<br />

das sog. „Prerower Protokoll“ vom<br />

September 1932, eine weitere der<br />

Brief an Bettina Israel vom 4.3.1933,<br />

<strong>die</strong> vierte sind <strong>die</strong> „Bemerkungen zu<br />

einer Selbstdarstellung“ vom Juni<br />

1933 und <strong>die</strong> fünfte jener ominöse<br />

Brief an Frl. Walther, eine frühere<br />

Studentin, vom Oktober 1933. Danach<br />

gibt es praktisch nichts mehr von ihm<br />

zu <strong>die</strong>sem Problem. Aus <strong>die</strong>sen Quellen<br />

kann man schließen, dass <strong>Reichwein</strong><br />

ein Gegner des Hitler'schen Nationalsozialismus<br />

war, besonders der<br />

völkischen Blut- und Bodenideologie<br />

und der sozialdarwinistischen Rassentheorie,<br />

welche seinen theoretischen<br />

Kern ausmachen, und zwar aus humanitären<br />

und auch religiösen, christlichen<br />

Gründen, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Basis<br />

seines freiheitlichen Sozialismus bildeten.<br />

Deshalb setzte er zunächst darauf,<br />

dass der linkere, sozialistische<br />

Flügel der NSDAP mit den Brüdern<br />

Strasser gegen den rechteren Hitlerflügel<br />

in Stellung gebracht werden<br />

könne und <strong>die</strong>sen überwinden und<br />

ausschalten könnte (Prerower-<br />

Protokoll), eine Hoffnung, <strong>die</strong> sich im<br />

Winter 1932/33 zerschlug. Nach der<br />

Machtergreifung des Hitlerflügels der<br />

NSDAP und nach <strong>Reichwein</strong>s Beurlaubung<br />

aus der Pädagogischen Akademie<br />

Halle ergriff er zunächst <strong>die</strong><br />

Chance einer Emigration in <strong>die</strong> Türkei,<br />

wo ihm <strong>die</strong> Notgemeinschaft der<br />

Deutschen Wissenschaft eine Professur<br />

in Istanbul in Aussicht stellte, eine<br />

Sache, <strong>die</strong> er anscheinend schon<br />

ziemlich verdeckt und diskret betrieb.<br />

In <strong>die</strong>ser Situation nimmt sich seine<br />

Bemerkung in dem Brief an Bettina Israel<br />

vom März 1933, sie möge ihm<br />

nichts Politisches mehr schreiben,<br />

denn man befinde sich im Jahr „1833<br />

!“, etwas merkwürdig aus. Sie macht<br />

einerseits deutlich: <strong>Reichwein</strong> wusste,<br />

dass <strong>die</strong> Meinungs- und <strong>Gedanken</strong>freiheit<br />

und auch das Postgeheimnis<br />

bereits ausgeschaltet waren und dass<br />

nunmehr äußerste Vorsicht geboten<br />

war, wenn man nicht in <strong>die</strong> Mühlen<br />

des neuen Polizei- und Unrechtsstaates<br />

geraten wollte. Andererseits fragt<br />

man sich, ob <strong>die</strong> Situation Deutschlands<br />

im Frühjahr 1933 wirklich mit<br />

der des „Deutschen Bundes“ um 1833<br />

unter der Metternich-Ägide mit der<br />

damaligen Verfolgung der Burschenschaften<br />

und Demokraten vergleichbar<br />

war, ob das nicht eine bedenkliche<br />

Fehleinschätzung und Verharmlosung<br />

darstellt. Hat <strong>Reichwein</strong> nicht<br />

bemerkt, mit welcher beispiellosen<br />

Konsequenz und Wucht das erste Hitler-Kabinett<br />

<strong>die</strong> neu eroberte Macht<br />

und Staatsgewalt des Nationalsozialismus<br />

von Anfang an nicht nur polizeilich,<br />

sondern auch politisch durchgesetzt<br />

hat, so dass schon im Sommer<br />

1933 alle aus der Weimarer Republik<br />

stammenden Gegenkräfte niedergewalzt<br />

waren, aufgeben mussten und<br />

ausgeschaltet bzw. „gleichgeschaltet“<br />

wurden ? Eine offene Frage.<br />

Zunächst standen für ihn, nach der<br />

Beurlaubung und angesichts einer ungewissen<br />

Zukunft, private Probleme<br />

im Vordergrund. Nach der Heirat und<br />

der Hochzeitsreise, in dem Übergangsquartier<br />

bei den Schwiegereltern<br />

in Berlin-Wannsee und während<br />

eines längeren Aufenthalts in Prerow<br />

ging es für ihn vor allem um <strong>die</strong> Sicherung<br />

einer neuen beruflichen Zukunft

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