„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein

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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012 48 se verfolgt und dabei auch mit angepackt. Adolf Reichwein schenkte Hildegard Becker gelegentlich Obst, mit dem Hinweis: "Die Weintrauben, die ich verschenke, sind süß und nicht sauer..." Die Theaterarbeit hat Hildegard gern mitgemacht. Doch einmal sollte sie beim Weihnachtskrippenspiel die Maria sein. Das habe sie abgelehnt, weil die Mitspielerinnen zu schlecht waren. Bei dieser Aufführung fungierte sie als Souffleuse. Adolf Reichwein schenkte ihr bei anderer Gelegenheit das Buch "Raubrittergeschichten" von Kurt von Repping und schrieb ihr folgende Widmung ins Buch: "Wenn Du liest, so solltest Du wissen, dass nur lohnte, das zu lesen, was Dein Herz emporgerissen zu dem Denker höherer Wesen". Diese Widmung hat sie sich gut gemerkt. Noch am 90. Geburtstag von Rosemarie Reichwein trug sie diesen Text 1994 erneut vor. Das Klassenzimmer sei durch einen Vorhang zweigeteilt gewesen. Auf dem Flur habe sie schlechteren Schülern bei Mathematikaufgaben geholfen. Ihre Stärke sei der Deutschunterricht gewesen. Sie lernte viele Gedichte auswendig und konnte sie auch gut vortragen. Auf Bitten Adolf Reichweins habe sie auch nach ihrer Schulzeit, also nach 1935, bei Theateraufführungen Gedichte aufgesagt. Bei Adolf Reichwein habe sie auch "anders zeichnen gelernt, aus der Natur". Bei Binsky wurde auch viel gemalt und abgezeichnet. Sie zeigte uns zwei Bilder, die 1932 entstanden: "ein Schäfer in der Landschaft" und "ein Dackelhund in der Landschaft", die sie beide abgemalt hatte. Breiten Raum nahm die Schilderung der großen Fahrt nach Ostpreußen ein. Lange war nicht klar, ob sie mitfahren konnte, da sie so mager gewesen sei. Die Fahrt wurde gemeinsam gründlich vorbereitet. Reichwein hatte alles perfekt arrangiert. Noch heute kann Hildegard Becker die Route beschreiben. Sie seien täglich bis zu 60 km (samt Gepäck) mit dem Fahrrad gefahren. Adolf Reichwein habe alles so wunderbar erläutert. "Zuerst habe ich mich durch ihren Vater in das Land Ostpreußen verliebt, dann habe ich meinen Liebhaber gefunden, der aus diesem herrlichen Land kam, meinen späteren Mann Erich Becker." In den 14 Tagen der Fahrt habe sie 5 Pfund zugenommen, sogar Tilsiter gegessen, obwohl sie keinen Käse mochte. "Wenn ich Schwierigkeiten hatte, schob mich Herr Reichwein beim Bergradfahren ein wenig." Die Rückfahrt erfolgte mit der "Preußen". Zum Glück hatten wir ruhige See. Hildegard Becker schrieb danach einen Aufsatz über die Kurischen Nehrung, den Adolf Reichwein besonders gut fand. Leider sei er nicht mehr aufzufinden. Durch die Russen kam 1945 vieles weg. "Bei Herrn Reichwein wurde auch viel gesungen. Ich sang die tiefe, also die dritte Stimme." Mit 14 Jahren habe sie angefangen, Geige zu spielen. "Adolf Reichwein spielte auch Geige, seine Frau Querflöte." An "Das laufende Band der Geschichte" konnte sich Hildegard Becker auch noch gut erinnern. "Es war mit Holzleisten an der Wand befestigt und wurde laufend ergänzt." Hildegard Becker bekam am Ende ihrer Schulzeit ein sehr gutes Zeugnis mit anerkennenden Worten Adolf Reichweins. Herr Reichwein habe auch versucht, ihr eine Lehrstelle zu besorgen, doch der Vater hatte sie schon während der 8. Klasse 1935 als Verkäuferin in Berlin verplant. Von einem Gefängniswärter, der in Brandenburg-Göhrden Dienst tat und in Werneuchen wohnte, erfuhr Hildegard, dass Adolf Reichwein dort im Gefängnis war. Sie erfuhr vom demselben Menschen später auch vom Tod Adolf Reichweins. Nach ihrer Erinnerung habe sich Herr Reichwein nie im Unterricht politisch geäußert. Er sei stolz auf sie gewesen und sie hätte ihren Lehrer sehr gemocht. Am Ende des Gesprächs kam noch der Enkel Kai Menzel mit seiner Freundin und der gemeinsamen Tochter Elisa in die Stube. Es wurde wieder familiärer und zum Abschied machte Sabine Reichwein ein Gruppenfoto auf dem Hof, dem Rasen, der das Haus umgibt. Es blieb keine Zeit mehr, in die benachbarte Gärtnerei Kalibe reinzuschauen. Auf der Rückfahrt nach Berlin kam bei uns auch der Gedanke auf, dass es mit einem weiteren Treffen mit Hildegard Becker schwierig werden könnte. Es war eine Freude, ihr zuzuhören. Hildegard Becker war herzlich, humorvoll und erzählfreudig. Sie freute sich, dass wir gekommen waren. Ingeborg Menzel, Hildegard Becker und der ganzen Familie seien auch an dieser Stelle für die erwiesene Gastfreundschaft herzlich gedankt. Redaktion: Lothar Kunz, Sabine Reichwein Beerdigungsfeier für Hildegard Becker 23. Juni 2011 in Tiefensee Sabine Reichwein Wann zum ersten Mal und wie oft seitdem bin ich diese Strecke schon gefahren? Wird es das letzte Mal sein, oder für lange Zeit? Der Einladung von Hildegard Beckers Tochter folgend befinde ich mich auf dem Weg nach Tiefensee. Ich werde auch meine drei Geschwister und den Vorstand des Adolf- Reichwein- Vereins während der Beerdigungsfeier für Hildegard Becker vertreten. Nicht nur Trauer wegen des Verlusts der letzten Schülerin meines Vaters begleiten mich während der Autofahrt nach Tiefensee. Der Bahnhof Tiefensee ist nicht mehr in Betrieb, und dieser vertraute, liebgewonnene
eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012 49 Dorfname existiert seit einiger Zeit offiziell auch nicht mehr, ist aus dem Adressenverzeichnis verschwunden. Tiefensee wurde eingemeindet. Die ehemalige Schule und die Häuser der ehemaligen Schülerinnen in der Adolf- Reichwein-Straße liegen heute in Werneuchen. - Wehmut befällt mich.- Bedächtig nähere ich mich dem etwa 500 m entfernten in einem Wäldchen und gegenüber eines riesigen Kornfelds gelegenen kleinen Friedhof, der eher wie ein größerer, grade noch überschaubarer Garten anmutet. Die Tür im Jägerzaum steht weit offen. Ein Schild mit der Todesanzeige ist an ihr befestigt. Auf der Wiese steht eine kleine Kapelle. Sie ist etwa 10m lang. An ihrem Kopfende stehen überraschend viele Menschen, etwa 60 jeden Alters, in kleineren Gruppen vereint. Freundliche, mitunter auch wissende Blicke begegnen mir, bis ich unter all diesen Gesichtern endlich das erste mir bekannte wahrnehme, wenn auch nicht sogleich in dieser für mich fremden Umgebung. Sie erkennt mich sofort und kommt strahlend auf mich zu, Inge Menzel, Hildegard Beckers Tochter. Unsere letzte Begegnung liegt ja noch nicht lange zurück. Wir umarmen uns warmherzig und dankbar. Beim Vorstellen spricht sie den Namen Reichwein mit einem liebevollen und ehrfurchtsvollen Unterton. Einige nicken verstehend. Jetzt fühle ich mich aufgenommen. Inzwischen hat sich die kleine Kapelle gefüllt, in der nur wenige Besucher Platz finden. Ganz unüblich sitzen die Familienmitglieder nicht frontal zum Sarg in Reihen hintereinander, sondern auf zwei langgestreckten Bänken an den seitlichen Wänden, einander gegenüber sitzend und über den Sarg in ihrer Mitte sich anschauend – ein besonderes, ein dörfliches Bild, wie aus einer früheren Zeit. Die Familienmitglieder sind zahlreich erschienen, auch von weiter hergekommen. Wir geladenen Gäste stehen vor der geöffneten Kapelle und werden einbezogen. Gemeinsam singen wir das „Feierabendlied“ (von Hildegard Becker ausdrücklich gewünscht), „Lobet den Herrn“ und „So nimm denn meine Hände“. Der junge Pfarrer Frank Städler spricht ausführlich, anrührend, einfach und sehr persönlich über das Leben von Hildegard Becker, erzählt auch von ihrer Schulzeit, die sie nachhaltig beeinflusst hätte, und von ihrem ehemaligen Lehrer Adolf Reichwein, der eine entscheidende Rolle in ihrem Leben gespielt habe, den sie sehr verehrte. Auch den langen Spruch, den er in ihr Poesiealbum geschrieben hatte, zitiert er. Hildegard Becker sagte ihn immer wieder auswendig auf, mit besonderer Inbrunst am 95. Geburtstag meiner Mutter, die sie auch sehr schätzte - bis zu ihrem Lebensende - bedächtig, ehrfürchtig, „mit Betonung“. Während der Sarg schließlich in die Erdgrube sinkt, improvisiert in einiger Entfernung ein Trompetenspieler noch einmal das „Feierabendlied“ und „Il silencio“, sehr schön und bewegend. Mit etwas Erde fliegt der von mir gefaltete und beschriftete Origami-Kranich mit unseren guten Wünschen zu ihr ins Grab.- Nach der Grablegungs- Zeremonie laufen die meisten Gäste zum Restaurant „Spitzkrug“. Inge Menzel lädt auch mich ein und ich folge ihrer Bitte nur zu gerne, mich auf den ihr gegenüber liegenden Platz am langen Tisch zu setzen. Besonders mit ihr möchte ich mich austauschen. Pfarrer Frank Städler kommt an unseren Tisch und bittet um den Platz neben mir. Darüber freue ich ebenso, weil ich an einem Gespräch mit ihm auch sehr interessiert bin. Ingeborg Menzels Mann und Familie kommen hinzu. Sie sagen mir, wie sehr sie sich über mein Kommen freuen, auch als Vertreterin für meine Geschwister und die Mitglieder des Adolf- Reichwein-Vereins. Die belegten Brötchen hat die Familie selbst mitgebracht. Mit dem Besitzer des „Spitzkrug“ hatte sie zuvor vereinbart, dass er lediglich für die Getränke sorgen würde. Unser Zusammensein in eher fröhlicher und entspannter Atmosphäre wird weniger durch ein anspruchsvolles Essen bestimmt, als vielmehr durch intensive persönliche Gespräche miteinander. Pfarrer Frank Städler war aus der Großstadt Berlin aufs Land gekommen und betreut nun acht Dörfer. Er fühlt sich gut unterer den Menschen und arbeitet gerne hier. Ihn interessiert z.B. am meisten, ob das Leben meiner Familie nach dem Tod meines Vaters „widersprüchlich“ und „schwierig“ gewesen sei. Er bemüht sich, sich in unsere damalige Situation hinein zu versetzen. Unumwunden gibt er zu, nicht viel über den damaligen Widerstand und den „Kreisauer Kreis“ zu wissen. Drum ist er auf angenehme natürliche Art wissbegierig, an Details der Familiengeschichten aus diesem Kreis interessiert. Beim Abschied am Abend bekomme ich eine große Tüte mit dunklen Kirschen aus dem Garten hinter dem Haus mit auf den Weg. Gerührt und dankbar nehme ich sie entgegen. Sie schmeckten so lecker, dass ich sie während der Heimfahrt fast vollständig aufesse. Ich denke, dass Hildegard Kaliebe, verheiratete Becker, in deren Leben Kirschen stets eine wichtige Rolle spielten, mich dabei zufrieden und nachsichtig lächelnd beobachtet.Hildegard Becker starb nur vier Monate nach ihrem 90. Geburtstag, den sie unbedingt noch im Kreis ihrer Familie erleben wollte. „Ich habe liebe Kinder, die gut zu mir sind. Ja, meine Familie sorgt gut für mich“, hatte sie wiederholt zu mir gesagt. In der Stunde ihres Todes waren ihre Tochter mit ihrem Mann bei ihr, durfte sie sich von ihnen getragen fühlen.Nach unserem Gespräch im Oktober 2010, das Konrad Vanja, Lothar Kunz und ich mit ihr und ihrer Familie führten, hatten wir den starken Wunsch, sie noch einmal besuchen zu dürfen, ahnten allerdings schon, dass es dazu vielleicht nicht mehr kommen würde. Tatsächlich wurde sie in den kommenden Monaten immer schwächer, erblindete zunehmend, zog sich mehr und mehr in sich zurück und musste vor ihrem Geburtstag noch in einem Pflegeheim untergebracht
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