„Richte immer die Gedanken... - Adolf-Reichwein-Verein
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eichwein forum Nr. 17/18 Mai 2012<br />
27<br />
diner war der Begriff des “Volkes”,<br />
aber auch der der “Rasse”<br />
wichtig. Er plä<strong>die</strong>rt für einen Zusammenschluss<br />
der nordischen<br />
Völker um <strong>die</strong> Nord- und Ostsee;<br />
seine Vorstellungen einer “germanischen<br />
Welt” haben dabei<br />
rassistische Anklänge. - <strong>Reichwein</strong><br />
setzt sich für <strong>die</strong> Einheit des<br />
Volkes ein, möchte <strong>die</strong>se aber<br />
durch den Sozialismus anstreben<br />
und sieht dabei <strong>die</strong> “Nation” als<br />
<strong>die</strong> Verwirklichung “unserer Existenz<br />
in letzter Form” (vgl. 1932.<br />
S. 93) und auch als einen Zwischenschritt<br />
auf dem Wege zu<br />
einem Europa. Er kann offensichtlich<br />
nichts mit der Vorstellung<br />
Gardiners von der “germanischen<br />
Welt” und der anzustrebenden<br />
Einheit der nordischen<br />
Völker anfangen. Darauf spielt er<br />
wohl an, wenn er an Gardiner<br />
schreibt, dass er sich freue, ihn<br />
bald “wieder in Germanien” zu<br />
sehen (Brief vom 1.3.1939, in:<br />
LBD 1999, S. 151). Im Brief vom<br />
24.4.1939 an Bettina Ostarhild<br />
spöttelt er sogar über “Rolf”, der<br />
“unentwegt auf seinem Posten”<br />
sei und “den Germanen freie<br />
Hand im slawischen – nach Rolfs<br />
Meinung staatsunfähigen - Osten”<br />
(BBF AR-Archiv) geben<br />
möchte.<br />
• Dass Gardiner mit den Nationalsozialisten<br />
sympathisierte und<br />
sich antisemitisch geäußert hatte,<br />
ist für <strong>die</strong> Zeit von 1933/34 zu<br />
belegen. Hans Raupach, von<br />
1930 bis 1932 hauptamtlicher<br />
Leiter des Grenzschulheims<br />
Boberhaus und Mitwirkender<br />
beim Aufbau der ersten Arbeitslager,<br />
hat Gardiner bei seiner<br />
“Gedenkrede” 1972 als einen<br />
“Mann der konservativen Revolution”<br />
bezeichnet, “der den Mittelweg<br />
zwischen radikaler liberaler<br />
Entbindung und kollektivistischer<br />
Zwangsordnung suchte,<br />
und der sich dabei in anschaulicher<br />
Denkweise an vorindustriellen,<br />
gleichsam gewachsenen<br />
Ordnungen orientierte, deren<br />
Symbole der besseren Vergangenheit<br />
in Bauwerk, Siedlungsgestalt<br />
oder in der Musik erblickt<br />
wurden” (1973, S. 13). Als nach<br />
1933 alle Bestrebungen der Jugendbewegung<br />
unter dem NS-<br />
Regime begraben wurden, habe<br />
Gardiner sich in England bemüht,<br />
“das Positive in den ersten Jahren<br />
des Führerstaates zu entdecken<br />
und damit den Weg zum<br />
Besseren offenzuhalten” (S. 19;<br />
vgl. auch Jefferies/Tyldesley<br />
2011a, S. 11f.). Er erwartete von<br />
dem NS-Regime eine Weiterentwicklung<br />
des Volkes und von der<br />
Reichsnährstandspolitik eine Unterstützung<br />
der Landreformbewegung.<br />
Die Einschätzung Gardiners<br />
durch Raupach ist dabei<br />
sehr moderat, wenn man etwa<br />
an dessen Briefe an <strong>die</strong> “Times”<br />
und an Goebbels denkt. Ab 1934<br />
zeigte sich bei Gardiner eine Ernüchterung<br />
über das NS-Regime<br />
und eine Distanzierung von dessen<br />
Machtpolitik. - <strong>Reichwein</strong><br />
distanzierte sich 1931 vom Nationalsozialismus<br />
und dem “neuen,<br />
lebensgefährlichen Kollektivismus<br />
der Blutjünger” (Brief an<br />
Curtius vom 28.11.1931, in: LBD<br />
1999, S. 116), wollte der NSDAP<br />
jedoch 1932 noch <strong>die</strong> Chance zur<br />
“praktischen Bewährung ihrer<br />
sozialistischen Ideen” (Prerower<br />
Protokoll, in: LBD 1999, S. 382)<br />
geben, nicht aber mehr nach der<br />
Machtübernahme der Nationalsozialisten<br />
und dem Beginn des<br />
Dritten Reiches. Er hat offensichtlich<br />
auch bei den Treffen mit<br />
Gardiner seine Einschätzung der<br />
Nationalsozialisten und des NS-<br />
Regimes in aller Deutlichkeit vorgetragen.<br />
• Es waren zwei Freunde, deren<br />
Beziehung zueinander nicht ohne<br />
Probleme war. <strong>Reichwein</strong> war<br />
aus Sicht Gardiners zu “intellektuell”,<br />
hielt Distanz zum “Führungskern”<br />
der bündischen Jugend<br />
und hatte <strong>die</strong> “Ostidee”<br />
und <strong>die</strong> Bestrebungen des<br />
Boberhauses und des Musikheims<br />
Frankfurt/Oder in seiner<br />
“Tragweite” nicht “richtig verstanden”<br />
(Gardiner 1960, S. 7), er<br />
habe sich daher auch gegen Buske<br />
ausgesprochen. Vermutlich<br />
hat sich <strong>Reichwein</strong> in den Anfangsjahren<br />
des Dritten Reiches<br />
aus Gardiners Sicht auch zu deutlich<br />
vom NS-Regime abgegrenzt. -<br />
<strong>Reichwein</strong> wiederum distanzierte<br />
sich von Gardiners Germanentum<br />
und seinen völkischen Vorstellungen<br />
und kritisierte ihn,<br />
weil er <strong>die</strong> Ziele und <strong>die</strong> Machtpolitik<br />
der Nationalsozialisten<br />
lange unterschätzte. Bemerkenswert<br />
ist trotz der gegenseitigen<br />
Kritik: 1. Sie konnten <strong>die</strong><br />
Leistungen des anderen sehen<br />
und anerkennen: <strong>Reichwein</strong> Gardiners<br />
Aktivitäten im landwirtschaftlichen<br />
und kulturellen Bereich<br />
in Springhead, Gardiner<br />
<strong>Reichwein</strong>s Bemühungen um<br />
Schule und Erziehung sowie um<br />
ein anderes Deutschland und um<br />
ein Europa. 2. Sie akzeptierten<br />
schließlich auch, dass der andere<br />
eine andere Meinung vertrat und<br />
für richtig hielt (vgl. <strong>Reichwein</strong>s<br />
Brief an Gardiner vom<br />
19.12.1938).<br />
Abschließend komme ich noch einmal<br />
auf John Eliot Gardiner, den Sohn Rolf<br />
Gardiners, zurück.Er hat in einem Gespräch<br />
mit Patrick Wright geäußert,<br />
dass er sich wohl mit den landwirtschaftlichen<br />
und umweltbezogenen,<br />
nicht aber mit den politischen und internationalen<br />
Aktivitäten seines Vaters<br />
identifizieren kann (1995, S. 202).<br />
Das ist aus meiner Sicht verständlich<br />
und nachvollziehbar. Was <strong>Reichwein</strong>s<br />
pädagogische, politische und internationale<br />
Position anbetrifft, so kann<br />
man ihr zustimmen. Das trifft auch für<br />
seinen “Kompromiß” mit dem NS-<br />
Regime im Rahmen seiner Lehrertätigkeit<br />
in Tiefensee zu; er hat hier deutlich<br />
<strong>die</strong> Grenze des Sicheinlassens gesehen.<br />
An Hand bisher unbekannter<br />
Dokumente über seine Tätigkeit im<br />
Warthegau wird zu prüfen sein, wieweit<br />
das auch hier gilt.