Journalismus in der Berliner Republik - Netzwerk Recherche
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Mützel erklärt anhand von fünf Entwicklungsphasen,<br />
wie sich allmählich e<strong>in</strong> spezifischer Berichterstattungsstil<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptstadt herausbildete: Auf die<br />
immense „Aufrüstung <strong>der</strong> Redaktionsressourcen“ <strong>in</strong><br />
Erwartung des Regierungsumzugs (Phase I) folgte<br />
zunächst e<strong>in</strong>e „Zeitungsschlacht um Berl<strong>in</strong>“ (Phase<br />
II). Daraufh<strong>in</strong> wurde mit Etablierung <strong>der</strong> so genannten<br />
„Berl<strong>in</strong>er Seiten“ versucht, dem „Anspruch auf<br />
Deutungsmacht“ nachzugehen (Phase III). In den<br />
Folgejahren wurde nicht nur das „Ende des ‚rhe<strong>in</strong>ischen<br />
<strong>Journalismus</strong>’“ besiegelt (Phase IV); die üppig<br />
ausgestatteten Hauptstadtbüros mussten im Zuge<br />
<strong>der</strong> Medienkrise 2000/2001 zudem e<strong>in</strong>schneidende<br />
Sparmaßnahmen verkraften (Mützel 2007: 56-69).<br />
Während <strong>in</strong> <strong>der</strong> alten Hauptstadt also noch <strong>der</strong><br />
„Bonner Generalanzeiger“ e<strong>in</strong>e luxuriöse Monopolstellung<br />
als Chronist des politischen Geschehens<br />
genoss, witterten <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> Mützel zufolge vor allem<br />
die beiden großen regionalen Tageszeitungen, Der<br />
Tagesspiegel (Georg von Holtzbr<strong>in</strong>ck Verlag) und<br />
Berl<strong>in</strong>er Zeitung (damals Gruner + Jahr, heute: BV<br />
Deutsche Zeitungshold<strong>in</strong>g), unter den neuen Standortbed<strong>in</strong>gungen<br />
plötzlich e<strong>in</strong>en überregionalen Profilierungsvorteil<br />
<strong>in</strong> punkto bundespolitische Berichterstattung.<br />
Erich Böhme, 1990 bis 1994 prom<strong>in</strong>enter<br />
Herausgeber <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Zeitung, formulierte se<strong>in</strong>erzeit<br />
sogar den Anspruch, das Blatt zur „deutschen<br />
‚Wash<strong>in</strong>gton Post’“ auszubauen. Ziel bei<strong>der</strong><br />
Tageszeitungen war jedoch weniger das Elaborat<br />
e<strong>in</strong>es beson<strong>der</strong>en journalistischen Hauptstadtstils,<br />
son<strong>der</strong>n – ganz profan – die Auflagensteigerung.<br />
2.2. Das Oeuvre <strong>der</strong> Popliteraten<br />
Ähnliche Ambitionen hegten offenbar auch Frankfurter<br />
Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung und Süddeutsche Zeitung,<br />
<strong>der</strong>en nun personell üppig ausgestattete Hauptstadtbüros<br />
versuchten, mit <strong>der</strong> Installation so genannter<br />
„Berl<strong>in</strong>er Seiten“ ihre Stammleserschaft zu<br />
stützen und neue Leser h<strong>in</strong>zuzugew<strong>in</strong>nen. Während<br />
ab April 1999 die tägliche Berl<strong>in</strong>-Seite im Politik-Buch<br />
<strong>der</strong> „Süddeutschen“ e<strong>in</strong>er überwiegend bayerischen<br />
Leserschaft das Großstadtleben <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> schmackhaft<br />
zu machen gedachte, verblüffte die ansonsten<br />
konservative FAZ mit e<strong>in</strong>er kooptierten Wochen-<br />
Beilage des Feuilletons wenige Monate später durch<br />
e<strong>in</strong>en bunten Stilmix aus lokalpolitischen Stimmungsberichten<br />
und ungewöhnlichen Erlebnisreportagen<br />
unter <strong>der</strong> Leitung des damals erst 28-jährigen<br />
Redakteurs Florian Illies: Der wilde Trupp talentierter<br />
Jungschreiber und Popliteraten (u. a. Eckhart<br />
Nickel, Moritz von Uslar, Stefanie Flamm), die Illies<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> alsbald anheuerte, betrachtete die Hauptstadt<br />
fortan „als Bühne, auf <strong>der</strong> Stücke, die später <strong>in</strong><br />
ganz Deutschland gespielt werden, zur Premiere<br />
kommen“ (zit. n. Mützel 2007, 63).<br />
Der Hauptstadtjournalismus wurde damit – zunächst<br />
– dem Oeuvre „dieser Popleute“ (Cordt Schnibben<br />
zit. n. Hachmeister 2007, 210) unterstellt, was mitnichten<br />
e<strong>in</strong>e „Verbonnerung Berl<strong>in</strong>s“ (Mützel 2007,<br />
58) bedeutete, wie viele ehemalige Korrespondenten<br />
unterstellten, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>terpretatorischen<br />
Wende <strong>der</strong> gerade ausgerufenen „Berl<strong>in</strong>er<br />
<strong>Republik</strong>“ gleichkam. In <strong>der</strong> Perspektive Mützels hat<br />
<strong>der</strong> Hauptstadtjournalismus erst durch dieses erste<br />
Puzzlestück <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Seiten, e<strong>in</strong> oft zwischen Mut<br />
und Übermut alternierendes Experiment, se<strong>in</strong>en<br />
publizistischen Kurs aufgenommen und zu se<strong>in</strong>er<br />
heutigen Identität gefunden.<br />
2.3. Vom Raumschiff Bonn zur verschworenen<br />
Berl<strong>in</strong>-Society<br />
Obwohl dem postmo<strong>der</strong>nen ‚anyth<strong>in</strong>g goes’ wegen<br />
f<strong>in</strong>anzieller Engpässe durch die Medienkrise 2001/<br />
2002 schnell e<strong>in</strong> jähes Ende bereitet werden musste,<br />
und auch die Auflagen bei<strong>der</strong> Qualitätsblätter entgegen<br />
<strong>der</strong> Erwartungen nur unwesentlich h<strong>in</strong>zugewannen,<br />
wirkten die vielfältigen Impulse <strong>der</strong> Popliteraten<br />
und Schöngeister noch lange nach: Politischer Metropolenjournalismus<br />
beharkte zu jenen Anfangsjahren<br />
weniger das staubige politische Tagesgeschäft;<br />
vielmehr wurden verzückte Tratsch- und Klatschgeschichten<br />
über die politische Klasse und die Kulturmedien<strong>in</strong>dustrie<br />
erzählt, zwei Sphären, die sich <strong>in</strong><br />
den schwülen Partynächten Berl<strong>in</strong>s zunehmend e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
anverwandelten. Dieses „Closed Shop“-<br />
Pr<strong>in</strong>zip, das sich über die Jahre zu e<strong>in</strong>er verschworenen<br />
Promi-Geme<strong>in</strong>schaft auswuchs, gereicht bis<br />
heute zum großen Nachteil vieler auswärtiger Regionalzeitungen<br />
und Lokalredaktionen, die als Zaungäste<br />
das elitäre Gewese seitdem meist nur noch<br />
aus <strong>der</strong> Ferne beobachten. Wenn man den Autoren<br />
<strong>der</strong> Hauptstadtjournalismusliteratur Glauben<br />
schenkt, ist Berl<strong>in</strong> damit zu e<strong>in</strong>er „Bühne von Politik<br />
und Medien geworden, die von <strong>der</strong> Lebenswirklichkeit<br />
<strong>der</strong> Bürger weiter entfernt ist als das legendäre<br />
Raumschiff Bonn“ (Bruns 2007, 8). Folgerichtig<br />
konnte dem Ansehen des etablierten Politikjournalismus<br />
kaum etwas mehr schaden als jener strukturell-habituelle<br />
Wandel, <strong>der</strong> mit dem Umzug des Regierungsapparats<br />
an die Spree e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>g:<br />
„Berl<strong>in</strong>-Mitte ist das Zentrum des politikverdrossenen<br />
Deutschland. Politiker und Medien beleuchten und<br />
beklatschen sich auf dieser Bühne gegenseitig, als<br />
Darsteller, Publikum und Kritiker. Von den Bürgern<br />
werden sie als e<strong>in</strong>e selbstbezogene Kaste wahrgenommen,<br />
die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Boot sitzt, durch e<strong>in</strong>e gleichartige<br />
Lebensweise verbunden, auf <strong>der</strong> sicheren<br />
Seite und jenseits <strong>der</strong> Risiken, die sie <strong>in</strong> Ausübung<br />
ihrer öffentlichen Macht den Bürgern zumuten.“<br />
(ebd., 9)<br />
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