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Journalismus in der Berliner Republik - Netzwerk Recherche

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schlag tun sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach wahns<strong>in</strong>nig<br />

schwer, Tiefgang und Ruhe zu bewahren“, bef<strong>in</strong>det<br />

Senatssprecher Richard Meng. Damit rückt <strong>der</strong><br />

Agenda-Begriff auch immer mehr von se<strong>in</strong>er ursprünglichen<br />

Konnotation ab: Die ‚politische Agenda’<br />

taugt nur mehr als re<strong>in</strong>e Leerformel für den Ablauf<br />

des Nachrichtentages.<br />

Indem die Nachrichtenagenturen exklusive Vorabmeldungen,<br />

so genannte ‚Vorabs’, von auflagenstarken<br />

Zeitungen o<strong>der</strong> Magaz<strong>in</strong>en (bspw. Politiker-<br />

Statements) übernehmen, mutieren sie zur überdimensionalen<br />

Verteilstation im Konkurrenzkampf um<br />

politische Deutungsmacht – mitunter auch ungewollt,<br />

beteuert Mart<strong>in</strong> Bialecki (dpa): Der Informationszuwachs<br />

mache se<strong>in</strong>er Agentur zu schaffen, nicht<br />

wegen des erhöhten Aufkommens an sich, son<strong>der</strong>n<br />

wegen des hehren Anspruchs von dpa, die „Richtigsten“<br />

und „Allerverlässlichsten“ zu se<strong>in</strong>. Sab<strong>in</strong>e Adler<br />

(DLF) weist darauf h<strong>in</strong>, dass Agenturmeldungen<br />

trotzdem oft nach kurzer Zeit veraltet seien. Was<br />

essentiell ist für den politischen Me<strong>in</strong>ungsbildungsprozess,<br />

kann aufgrund dieser Aktualitätsfalle kaum<br />

noch ausgemacht werden. Umso häufiger ist die<br />

Rede von ‚Häppchenjournalismus’, <strong>der</strong> existiere, weil<br />

„die Leute ke<strong>in</strong>e langen Sachen mehr lesen wollten“<br />

(Graf von Nayhauß, Bild/ Bunte). Ulrich Deppendorf<br />

(ARD) betrachtet diese Entwicklung zur „Kle<strong>in</strong>-Kle<strong>in</strong>-<br />

Berichterstattung“ kritisch; es fehle schlicht die Muße<br />

für den Blick aufs große Ganze. E<strong>in</strong>e weitere<br />

Negativfolge ist das ,Agenda Cutt<strong>in</strong>g‘: Themenkarrieren<br />

werden verkürzt o<strong>der</strong> entstehen erst gar<br />

nicht, weil Ereignisse nicht ausreichend sensationell,<br />

aktuell o<strong>der</strong> medienwirksam s<strong>in</strong>d. Wenn allerd<strong>in</strong>gs<br />

nur das als wichtig ersche<strong>in</strong>t und nachgeplappert<br />

wird, was „von zwei o<strong>der</strong> drei o<strong>der</strong> vier wichtigen<br />

Alphatieren im <strong>Journalismus</strong> vorgegeben wird“ (Dieter<br />

Wonka, Leipziger Volkszeitung), bestehe die<br />

Gefahr, dass die Themensetzung völlig beliebig werde.<br />

Günter Bannas (FAZ) befürchtet sogar, dass<br />

Korrespondenten und Redaktionen durch die selektive<br />

Beschneidung <strong>der</strong> Medien-Agenda <strong>in</strong>strumentalisiert<br />

werden könnten.<br />

4.2.1.2. Der Schweigespiralen-Effekt<br />

Die Tendenz zur beschleunigten Nachrichtenzirkulation<br />

und <strong>der</strong> damit e<strong>in</strong>hergehende Wettlauf um Exklusivmeldungen<br />

bereiten fast allen Hauptstadtjournalisten<br />

Kopfschmerzen – vor allem auch wegen des<br />

erhöhten Risikos zur Gleichförmigkeit bei <strong>der</strong> Themenwahl.<br />

Im Redaktionsalltag s<strong>in</strong>d offenbar selbst<br />

gestandene Politikjournalisten nicht vor dieser Art<br />

e<strong>in</strong>es „Schweigespiralen“-Effekts 4 gefeit, wie Thomas<br />

Kröter („Frankfurter Rundschau“) berichtet:<br />

4 E<strong>in</strong>e Schweigespirale entsteht, wenn e<strong>in</strong>e Vielzahl von Menschen<br />

glaubt, mit ihren persönlichen Me<strong>in</strong>ungen von <strong>der</strong> Mehrheit abzuweichen,<br />

und sich mit <strong>der</strong> Äußerung ihrer sche<strong>in</strong>bar gegenteili-<br />

„Es ist nicht leichter geworden, gegen die herrschende<br />

Me<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> Medien zu schreiben. Wenn<br />

alle for<strong>der</strong>n, Frau Merkel müsse stärker führen und<br />

mehr Stärke zeigen, lässt sich schwer dagegen halten,<br />

wie sie das denn, bitteschön, machen soll, wenn<br />

<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>ere Koalitionspartner nur e<strong>in</strong> Mandat weniger<br />

hat als ihr eigener Vere<strong>in</strong> und alles daran setzt,<br />

sie schlecht aussehen zu lassen. Wenn alle Herrn<br />

Becks taktischen Fehler <strong>in</strong> Sachen L<strong>in</strong>kspartei mit<br />

hohem Ton zum Wortbruch und zur moralischen<br />

Katastrophe stilisieren, ist es schwer mit Tucholsky<br />

zu fragen: Ham Se’s nich ne Numma kleena? Das<br />

Schöne ist: die Moden wechseln immer schneller.<br />

Bald zieht die Truppe e<strong>in</strong>er neuen Kapelle h<strong>in</strong>terher.<br />

Wenn man [also] Glück hat, gibt dann die eigene<br />

ehemals M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitsme<strong>in</strong>ung den Ton an.“ (Thomas<br />

Kröter, Frankfurter Rundschau)<br />

Nicht immer ist ersichtlich, woh<strong>in</strong> die von Kröter<br />

apostrophierte „Kapelle“ zieht, welche Deutungen<br />

unter Leitartiklern und Chefkommentatoren <strong>der</strong><br />

Rundfunkanstalten dom<strong>in</strong>ieren. Dennoch haben die<br />

Hauptstadtjournalisten e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Sensibilität<br />

für ‚Ma<strong>in</strong>stream’-Themen entwickelt und eruieren<br />

regelmäßig, welche Me<strong>in</strong>ungen die Oberhand gew<strong>in</strong>nen<br />

– um gleich sie als Basis o<strong>der</strong> als Korrektiv <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> eigenen Me<strong>in</strong>ungsf<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>zusetzen. Die Vermutung,<br />

dass sich dadurch <strong>der</strong> b<strong>in</strong>nenpsychische<br />

Druck zur argumentativen Konformität nicht nur <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Themensetzung wi<strong>der</strong>spiegelt, son<strong>der</strong>n sich<br />

auch auf die Kommentarl<strong>in</strong>ie nie<strong>der</strong>schlägt, wollen<br />

die Befragten <strong>in</strong>des nur vere<strong>in</strong>zelt bestätigen. Während<br />

Brigitte Fehrle (Zeit) betont, dass die Harmonie<br />

unter den Korrespondenten abrupt dann ende, wenn<br />

es um Me<strong>in</strong>ungen gehe, die noch nicht publiziert<br />

worden seien, warnt Günter Bannas (FAZ) vor e<strong>in</strong>er<br />

Verharmlosung gegenseitiger Orientierung unter<br />

Journalisten: Gerade auf Parteitagen besteht se<strong>in</strong>er<br />

Ansicht nach die Gefahr e<strong>in</strong>er zu starken Kollegenorientierung:<br />

die Berichterstatter sprächen seltener<br />

mit den anwesenden Delegierten als auf die E<strong>in</strong>schätzungen<br />

ihrer Kollegen zu vertrauen. Auch Nico<br />

Fried (Süddeutsche Zeitung) zufolge ist Me<strong>in</strong>ungsbildung<br />

unter Politikkorrespondenten e<strong>in</strong> relativ undurchsichtiger<br />

Prozess, <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s dann zu e<strong>in</strong>er<br />

‚déformation professionelle’ führe, wenn die ohneh<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vertraulichen Kollegenverhältnis stehenden<br />

Journalisten für längere Zeit geme<strong>in</strong>sam auf engstem<br />

Raum ihre Beobachterposten besetzten:<br />

gen Auffassung zurückhält, weil sie die soziale Exklusion fürchten.<br />

Diese Theorie hat Elisabeth Noelle-Neumann <strong>in</strong> Anwednung auf<br />

das Medienpublikum formuliert (vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth<br />

(1980): Die Schweigespirale. Öffentliche Me<strong>in</strong>ung – unsere soziale<br />

Haut. München [u.a.]: Piper).<br />

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