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Journalismus in der Berliner Republik - Netzwerk Recherche

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„Das funktioniert als e<strong>in</strong>e Art Strafe-Belohnungs-<br />

System.“ Wer sich nicht an die Autorisierungsvere<strong>in</strong>barung<br />

halte, die bei Politiker-Interviews stillschweigend<br />

vorausgesetzt werde, dem könnten Ste<strong>in</strong>e <strong>in</strong><br />

den Weg gelegt werden, wenn er mit <strong>der</strong> gleichen<br />

Person e<strong>in</strong> weiteres Interview führen möchte. Dagegen<br />

helfe nur e<strong>in</strong> geschlossenes Vorgehen, me<strong>in</strong>t<br />

Holger Schmale von <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Zeitung:<br />

„Ich empf<strong>in</strong>de die Autorisierungspraxis mit Politikern<br />

als Ärgernis. Das hängt allerd<strong>in</strong>gs sehr davon ab, mit<br />

wem Sie es zu tun haben. Es gibt außerordentlich<br />

p<strong>in</strong>gelige Politiker o<strong>der</strong> Sprecher von Politikern, und<br />

es gibt Leute, mit denen das überhaupt ke<strong>in</strong> Problem<br />

ist, weil sie dazu stehen, was sie sagen. Im<br />

Pr<strong>in</strong>zip ist es aber ärgerlich, weil es die Authentizität<br />

wegnimmt. Das hat natürlich ke<strong>in</strong>e rechtliche Grundlage,<br />

aber wenn man sich über dieses Pr<strong>in</strong>zip h<strong>in</strong>wegsetzt,<br />

wird man sanktioniert, weil man e<strong>in</strong>fach<br />

ke<strong>in</strong> Interview mehr bekommt. Ich kenne daher ke<strong>in</strong><br />

Hauptstadtmedium, das sich darüber h<strong>in</strong>wegsetzen<br />

würde. […] Vor e<strong>in</strong> paar Jahren gab es e<strong>in</strong>e Aktion,<br />

ausgehend von <strong>der</strong> taz, die e<strong>in</strong> völlig verän<strong>der</strong>tes<br />

Interview mit Olaf Scholz <strong>in</strong>klusive aller Markierungen<br />

und Streichungen abgedruckt hat. Und daraus<br />

hatte sich e<strong>in</strong>e Initiative entwickelt, bei <strong>der</strong> die<br />

Frankfurter Rundschau dabei war, die Süddeutsche,<br />

<strong>der</strong> Tagesspiegel und wir. Wir haben an e<strong>in</strong>em Tag<br />

geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong> unseren Blättern thematisiert, warum<br />

das Autorisieren e<strong>in</strong> Problem ist. Aber es hat nicht<br />

so weit gereicht, dass sich diese Zeitungen gegenseitig<br />

versprochen haben, dass sie nachträglich geän<strong>der</strong>te<br />

Interviews nicht drucken. Da war <strong>der</strong> Konkurrenzgedanke<br />

wohl doch zu groß.“ (Holger<br />

Schmale, Berl<strong>in</strong>er Zeitung)<br />

4.3.7. Merkels Podcast: Mo<strong>der</strong>ne Kommunikationspolitik<br />

o<strong>der</strong> Propaganda?<br />

Der Video-Podcast von Angela Merkel, abrufbar im<br />

Internet unter www.bundeskanzler<strong>in</strong>.de, hat zweifellos<br />

e<strong>in</strong>e neue kommunikationspolitische Ära e<strong>in</strong>geläutet,<br />

obgleich die Deutung dieses Vorstoßes <strong>in</strong>s<br />

Virtuelle von Journalisten gegensätzlich beurteilt<br />

wird: „Es schwimmt so herrlich im Strom <strong>der</strong> Web<br />

2.0-Themen, und auch das gibt <strong>der</strong> Regierung auch<br />

e<strong>in</strong>en sehr mo<strong>der</strong>nen Anstrich“, diagnostiziert beispielsweise<br />

Agenturjournalist Mart<strong>in</strong> Bialecki (dpa).<br />

„Das ist Schnickschnack. E<strong>in</strong> Versuch, sich mo<strong>der</strong>n<br />

zu verkaufen und Medienkompetenz zu suggerieren.<br />

Wenn man sich das ansieht, merkt man gleich, dass<br />

sie ke<strong>in</strong>e Medienkompetenz hat“, me<strong>in</strong>t dagegen<br />

Roger Boyes (The Times). Trotz <strong>der</strong> polarisierenden<br />

Wirkung auf die Berichterstatter ist Berater Michael<br />

Spreng davon überzeugt, dass die wöchentliche<br />

Onl<strong>in</strong>e-Ansprache aus dem Bundeskanzleramt <strong>der</strong><br />

Kanzler<strong>in</strong> auf den Leib geschnei<strong>der</strong>t sei: „Frau Merkel<br />

zum Beispiel macht sehr wenig Interviews und<br />

Pressekonferenzen, ihre Auftritte vor den Medien<br />

s<strong>in</strong>d oft Statements, ohne dass Fragen geduldet<br />

werden. So versucht sie, ihr Bild <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

zu kontrollieren. Das ist bei ke<strong>in</strong>em so ausgeprägt<br />

wie bei Frau Merkel. Dazu gehört auch diese Podcast-Geschichte.“<br />

Spreng kann dem Podcast jedoch<br />

nicht nur Positives abgew<strong>in</strong>nen, son<strong>der</strong>n erkennt<br />

dar<strong>in</strong> auch Formen <strong>der</strong> Instrumentalisierung:<br />

„Diese Entmündigung <strong>der</strong> Journalisten ist aber das<br />

ausgewiesene Ziel vieler Politiker. Die meisten Politiker<br />

haben ke<strong>in</strong> natürliches Interesse, <strong>der</strong> Vierten<br />

Gewalt e<strong>in</strong>en Gefallen zu tun und sich unter die<br />

Medienkontrolle zu stellen. Im Gegenteil: Sie wollen<br />

die Medien benutzen. Viele Politiker haben, so würde<br />

ich das sagen, nur e<strong>in</strong> <strong>in</strong>strumentelles Verhältnis zu<br />

den Medien, aber ke<strong>in</strong> Überzeugungsverhältnis. Die<br />

meisten Politiker s<strong>in</strong>d ja nicht die leidenschaftlichsten<br />

Verfechter des Artikels 5 des Grundgesetzes.<br />

Die wollen die Medien für ihre Zwecke benutzen.“<br />

(Michael Spreng, Medien- und Kommunikationsberater)<br />

Als geglückter Entmündigungsversuch müsse gewertet<br />

werden, dass Ausschnitte aus <strong>der</strong> Videobotschaft<br />

bereits mehrmals <strong>in</strong> den Nachrichten e<strong>in</strong>iger Fernsehsen<strong>der</strong><br />

verwendet wurden. Auch <strong>der</strong> stellvertretende<br />

Regierungssprecher spricht bei wöchentlich<br />

rund 200.000 Zugriffen (Stand: Anfang 2008) auf<br />

den Kanzler<strong>in</strong>nen-Service von e<strong>in</strong>em Nutzererfolg;<br />

die Verbreitung des Podcast dürfte durch Downloads<br />

und private Weitergabe an an<strong>der</strong>e Onl<strong>in</strong>e-<br />

Plattformen allerd<strong>in</strong>gs noch höher liegen. Dennoch<br />

sei die so genannte „Regierungskommunikation 2.0“<br />

mit Vorsicht zu genießen, denn schließlich handele<br />

es sich bislang um e<strong>in</strong> Nischenphänomen. Auch ist<br />

das Internet Thomas Steg zufolge <strong>der</strong>zeit noch ke<strong>in</strong>e<br />

verlässliche Informationsquelle:<br />

„Über den Podcast beispielsweise erreichen wir viele<br />

von den Jüngeren, die politische Informationsangebote<br />

im Fernsehen nicht mehr nutzen. Aber jene, die<br />

sich ohneh<strong>in</strong> nicht für politische Berichterstattung<br />

<strong>in</strong>teressieren, erreichen wir damit auch nicht. Und<br />

das Problem <strong>der</strong> ‚<strong>in</strong>formation poor’ wird gravieren<strong>der</strong><br />

werden.“ (Thomas Steg, stellv. Regierungssprecher)<br />

In Journalistenkreisen stößt man gegenüber den<br />

Internet-Ambitionen <strong>der</strong> Kanzler<strong>in</strong> auf Häme und<br />

Ablehnung. Der Podcast sei „lächerlich“ (Fried), e<strong>in</strong><br />

„ungefiltertes Propaganda-Gebläse“ (Schwennicke)<br />

und e<strong>in</strong>e „kommunikative E<strong>in</strong>bahnstraße, die ärger-<br />

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