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Journalismus in der Berliner Republik - Netzwerk Recherche

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schreibt und dem, was die Leute denken, wird dadurch<br />

immer größer, wie Bruns zu ihrem Leidwesen<br />

feststellt (2007, 119): Lagerwelten seien ebenso<br />

verpönt wie an e<strong>in</strong>em Standpunkt zu kleben; das<br />

fröhliche Alternieren von Me<strong>in</strong>ungen gehöre mittlerweile<br />

schon zum guten Ton. Die neue politische<br />

Volatilität diene vor allem Auflage und Quote, behauptet<br />

Hofmann (2007, 422), und erkennt dar<strong>in</strong> die<br />

Ursache für e<strong>in</strong>en wachsenden Opportunismus unter<br />

den Alpha-Journalisten.<br />

2.7. Die Meute <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tempofalle<br />

Wer Hauptstadtjournalist ist, kommt mit e<strong>in</strong>er weiteren<br />

Unsitte <strong>in</strong> Berührung: Um <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

nicht unterzugehen, müssten sie und ihre Kollegen<br />

sich häufig (selbst-) <strong>in</strong>szenieren, gibt Bruns zu<br />

(2007, <strong>in</strong>: Weichert/ Zabel, 11). Die Gratwan<strong>der</strong>ung<br />

zwischen <strong>der</strong> eigenen Prom<strong>in</strong>enzsteigerung und<br />

e<strong>in</strong>er gesunden professionellen Distanz gestaltet sich<br />

entsprechend als schwierig. „E<strong>in</strong> wenig Bescheidenheit“,<br />

resümiert Hofmann (2007, 444), „täte uns<br />

gut“. Nimmt man Hans Hoffs (2007, <strong>in</strong>: Weichert/<br />

Zabel, 94) Lagebericht zum „Alpha-<strong>Journalismus</strong>“<br />

ernst, drängt sich <strong>der</strong> Verdacht auf, dass nur deshalb<br />

immer mehr Effekthascher <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptstadt ihr<br />

Unwesen treiben, weil die Bescheidenen schon<br />

längst Auslaufmodelle <strong>der</strong> Zunft s<strong>in</strong>d:<br />

„Es handelt sich dabei um rare Exemplare jener fast<br />

ausgestorbenen Journalistengattung, die, obwohl<br />

hoch geachtet und oft befragt, selten von sich aus<br />

das breite Licht <strong>der</strong> Öffentlichkeit suchen. Stattdessen<br />

pflegen sie die zurückgezogene Arbeit des Sorgfältigen,<br />

<strong>der</strong> auch <strong>in</strong> schneller Zeit gerne noch e<strong>in</strong>mal<br />

denkt, bevor er redet und nicht darauf vertraut,<br />

irrige Thesen schon morgen wie<strong>der</strong> korrigieren und<br />

durch neue ersetzen zu können. Zudem gehen sie<br />

gerne neutral an Themen heran und prüfen sie nicht<br />

schon beim ersten Besehen, ob sie auch <strong>in</strong> ihr Me<strong>in</strong>ungs-Portfolio<br />

passen. Sie lassen sich von den Ergebnissen<br />

ihrer <strong>Recherche</strong>n überraschen und formulieren<br />

Thesen erst, wenn sie von klaren Fakten diktiert<br />

werden. Und dann stehen sie auch zu ihren<br />

Erkenntnissen, verteidigen sie notfalls mit allen Vieren,<br />

weil es sich eben lohnt. Genau deshalb s<strong>in</strong>d sie<br />

die Ausnahmen.“<br />

Dem Nachwuchs, <strong>der</strong> später e<strong>in</strong>mal ‚irgendwas mit<br />

Medien’ machen will, s<strong>in</strong>d ausgerechnet diese Tugenden<br />

kaum zu vermitteln, streben doch die meisten<br />

von ihnen nach <strong>der</strong> journalistischen Macht ihrer<br />

Idole, politische Karrieren zu beför<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu beenden<br />

– ohne aber die ethischen Grundregeln des<br />

Journalistenberufs zu befolgen. Bruns zufolge hat<br />

sich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> mittlerweile e<strong>in</strong>e mediale Mehr-<br />

Klassengesellschaft etabliert, an <strong>der</strong>en Spitze die<br />

„Alpha-Journalisten“ stehen. Den Bodensatz bildet<br />

dagegen e<strong>in</strong> Medienproletariat, das es <strong>in</strong> dieser Ausprägung<br />

zuvor noch nicht gegeben hat (Bruns 2007,<br />

57; vgl. Bruns 2006). Da sich die viele Bonner Korrespondenten<br />

dagegen verweigerten, sich <strong>der</strong> Politkarawane<br />

nach Berl<strong>in</strong> anzuschließen, erfor<strong>der</strong>te <strong>der</strong><br />

Hunger nach Informationen bald frisches Personal:<br />

Journalistische Frontschwe<strong>in</strong>e, die, überwiegend<br />

pragmatisch und karrieregeil, über e<strong>in</strong>e erschreckend<br />

ger<strong>in</strong>ge Kenntnis des politischen Geschehens<br />

verfügten, zugleich aber unter enormem Konkurrenzdruck<br />

litten und mit e<strong>in</strong>er ständigen Hektik zu<br />

kämpfen hatten, die sie selbst mit verursachten.<br />

„Die langen Wege durch die Berl<strong>in</strong>er Kulissen verän<strong>der</strong>n<br />

auch das Tempo – die Zeit: Die Zeit ist knapper,<br />

und sie wird immer knapper.“ (Bruns 2007, 17)<br />

Und nicht nur die Zeit: Hachmeister betont, dass<br />

guter <strong>Journalismus</strong> nicht nur Zeit (und Geld)<br />

braucht, son<strong>der</strong>n auch <strong>Recherche</strong> und Stil (Hachmeister<br />

2007, 87). Durch die Verknappung dieser<br />

vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abhängigen Vektoren werde <strong>der</strong> Deutungsjournalismus<br />

zunehmen, so se<strong>in</strong>e Prognose –<br />

zulasten <strong>der</strong> klassischen Reportage und ähnlich zeitund<br />

rechercheaufwändiger Darstellungsformen. War<br />

die Tuchfühlung zwischen Journalisten und Politikern<br />

<strong>in</strong> Bonn noch <strong>der</strong> prov<strong>in</strong>ziellen Enge geschuldet,<br />

wurde sie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> nicht „durch geläuterte Distanz,<br />

son<strong>der</strong>n durch e<strong>in</strong>e geradezu physische Belagerung<br />

abgelöst“ (Bruns 2007, 19). Schrö<strong>der</strong>, so glaubt<br />

Hachmeister (2007, 135), habe bei dieser „permanenten<br />

Vivisektion durch die Kameras, diesem politischen<br />

Big Brother e<strong>in</strong>e bella figura gemacht – dank<br />

se<strong>in</strong>es Kameragesichts, das „<strong>in</strong> verblüffen<strong>der</strong> Homogenität<br />

staatsmännische Distanz und kumpelhafte<br />

Nähe ausstrahlte“. Zur professionellen Entschleunigung<br />

hat Schrö<strong>der</strong>s TV-Präsenz bekanntlich nicht<br />

beigetragen; eher stiegen die Erwartungen seitens<br />

<strong>der</strong> Medien an das politische Personal noch e<strong>in</strong>mal<br />

durch die virtuosen Inszenierungsburlesken des<br />

Regierungsduos Schrö<strong>der</strong>/ Fischer: Wenn <strong>der</strong> Kanzler<br />

posiert, warum nicht gleich das ganze Kab<strong>in</strong>ett?<br />

E<strong>in</strong>e Versachlichung <strong>der</strong> Politik würde nach Ansicht<br />

<strong>der</strong> Beobachter heute Wun<strong>der</strong> wirken, jedoch ließen<br />

sich die Uhren nicht zurückdrehen: „Die gängige<br />

Medienkritik nimmt wahlweise die schwarzen Schafe,<br />

die junge Generation o<strong>der</strong> das Fernsehen <strong>in</strong> den<br />

Blick, selten aber das Gefüge selbst, das sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Kommunikation <strong>der</strong> öffentlichen Angelegenheiten <strong>in</strong><br />

den letzten Jahren herausgebildet hat“ (Bruns 2007,<br />

21).<br />

2.8. Das Problem <strong>der</strong> Echtzeitdemokratie<br />

Seit dem Regierungswechsel kommunizieren Politiker<br />

vor allem über die Bildmedien (vgl. Bruns 2007,<br />

16), das Fernsehen gibt zweifellos die Medienagenda<br />

im politischen Tagesgeschäft vor. Dabei verdrängt<br />

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