Journalismus in der Berliner Republik - Netzwerk Recherche
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„In die Politik zu gehen, ist ja ke<strong>in</strong> Beruf, jedenfalls<br />
nicht im Max Weber’schen S<strong>in</strong>ne des reichen, wohlhabenden<br />
Rentners, <strong>der</strong> es sich leisten kann. Vielmehr<br />
muss man sich heutzutage schon mit jungen<br />
18 Jahren auf e<strong>in</strong>e Ochsentour begeben und ohne<br />
e<strong>in</strong>en wirklichen Beruf zu erlernen die Parteilisten<br />
hochklettern wie Rudolf Scharp<strong>in</strong>g. Das kann es<br />
doch nicht se<strong>in</strong>! Ich b<strong>in</strong> daher auch <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung,<br />
dass e<strong>in</strong> Journalist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Partei nichts zu suchen<br />
hat – es sei denn, es handelt sich um den Chefredakteur<br />
des Vorwärts o<strong>der</strong> des Bayernkurier.“ (Gerhard<br />
Hofmann, RTL/ n-tv)<br />
Inwiefern Journalisten e<strong>in</strong>e politische Me<strong>in</strong>ung haben<br />
dürfen o<strong>der</strong> nicht, ist auch unter den Hauptstadtkorrespondenten<br />
durchaus umstritten. Entgegen<br />
Hofmanns grundsätzlicher Ablehnung e<strong>in</strong>er parteipolitischen<br />
Sympathie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Journalistenseele hält<br />
Tissy Bruns es nicht für falsch, wenn e<strong>in</strong> Berichterstatter<br />
selbst über politische Überzeugungen verfügt.<br />
Das gehöre für sie zum Berufsbild. E<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition<br />
von Politik sei ohneh<strong>in</strong> relativ, sagt Mart<strong>in</strong> Bialecki.<br />
Der studierte Politologe und Historiker ist <strong>der</strong><br />
Me<strong>in</strong>ung, dass se<strong>in</strong> Positionswechsel von <strong>der</strong> Hamburger<br />
Zentralredaktion <strong>der</strong> dpa, wo er das Ressort<br />
Vermischtes geleitet hatte, <strong>in</strong> die Berl<strong>in</strong>er Politikredaktion<br />
ke<strong>in</strong>e großen Verän<strong>der</strong>ungen mit sich gebracht<br />
habe; schließlich ist die Politik <strong>in</strong> gewisser<br />
Weise auch nur e<strong>in</strong> Teil, wenn auch womöglich <strong>der</strong><br />
wichtigste des vermischten Alltagsallerlei.<br />
4.1.2. „New <strong>in</strong> Town“: Der Neustart <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
zwischen Erwartungen und Enttäuschungen<br />
Nicht erst die betreffenden Öffentlichkeitsarbeiter<br />
und Beratungsstrategen mussten zu Beg<strong>in</strong>n ihres<br />
beruflichen Neustarts akzeptieren, dass die journalistischen<br />
Ideale im Alltag e<strong>in</strong>es politischen Berichterstatters<br />
zur Disposition stehen. Wer dem <strong>Journalismus</strong><br />
treu bleibt, f<strong>in</strong>det nicht selten Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen<br />
vor, die se<strong>in</strong>en ursprünglichen Vorstellungen<br />
deutlich wi<strong>der</strong>sprechen.<br />
„Als ich nach Berl<strong>in</strong> kam, waren das wahns<strong>in</strong>nig<br />
wilde Zeiten. Es gab wirklich wilde Journalistenmeuten<br />
nach dem Regierungsumzug 1999/2000. Das hat<br />
sich mittlerweile beruhigt. Aber das Mediengeschäft<br />
ist dreimal schneller geworden. Es wird auch me<strong>in</strong>er<br />
Me<strong>in</strong>ung nach zu viel <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Schritten berichtet.<br />
Wenn irgendwo e<strong>in</strong> Referentenentwurf auftaucht,<br />
<strong>der</strong> noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>isterbüro erreicht hat,<br />
wird da gleich e<strong>in</strong>e Story draus. Thomas Roth hat<br />
dazu e<strong>in</strong>mal gesagt, man müsse alles entschleunigen.<br />
Ich sehe das zwar als schwierig, aber als richtig<br />
an. Wir haben regelmäßig Fälle, dass Meldungen <strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>eren Zeitungen o<strong>der</strong> bei den Nachrichtenagen-<br />
turen auftauchen, wo wir uns wirklich zurücknehmen<br />
und abwarten müssen: Man kann nicht jedesmal<br />
über etwas berichten, was nur etwas weitergedreht<br />
wird. Sonst hat <strong>der</strong> Zuschauer irgendwann die<br />
Schnauze voll und versteht es auch gar nicht mehr.“<br />
(Ulrich Deppendorf, ARD)<br />
Das zweifellos stereotype wie unwirkliche Bild des<br />
Wetter und Gezeiten trotzenden Beobachterpostens<br />
im Strudel politischer Strömungen wurde von vielen<br />
<strong>der</strong> Befragten im H<strong>in</strong>blick auf ihre ursprünglichen<br />
Berufsziele geteilt. Dass Journalisten im Spannungsfeld<br />
zwischen Medienwettwerb und Politzirkus offenbar<br />
selbst zu e<strong>in</strong>em Spielball werden und ihre eigentliche<br />
Schiedsrichterfunktion kaum noch erfüllen<br />
können, ist e<strong>in</strong>e von den Hauptstadtjournalisten<br />
allgeme<strong>in</strong> beklagte Negativentwicklung dieser Tage.<br />
Als Journalist unabhängig zu se<strong>in</strong>, hätten viele se<strong>in</strong>er<br />
Kollegen längst verlernt, me<strong>in</strong>t Jens König (ehem.<br />
taz). Die Zwänge des Mediensystems mit ihren direkten<br />
Auswirkungen auf den journalistischen Alltag<br />
zersetzen offenbar schleichend so manches berufliche<br />
Ideal. So haben nach <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schätzung von<br />
Dieter Wonka von <strong>der</strong> Leipziger Volkszeitung vor<br />
allem ökonomische Mechanismen den Druck auf die<br />
Berichterstatter spürbar verschärft. Dass dadurch so<br />
mancher Traum von journalistischer Unabhängigkeit<br />
und sorgfältiger Informationsvermittlung wie -<br />
bewertung enttäuscht wurde, ist auch nach Ansicht<br />
von Peter Frey (ZDF) ke<strong>in</strong>e Berl<strong>in</strong>er Spezialität, son<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>e zwangsläufige Konsequenz von technologischer<br />
Entwicklung und wirtschaftlichem Druck: „In<br />
Bonn hätte sich das ähnlich entwickelt.“<br />
Auch die übrigen maßgeblichen Mängel <strong>der</strong> Hauptstadtberichterstattung<br />
konturieren weniger das unvorteilhafte<br />
Bild e<strong>in</strong>es Berl<strong>in</strong>er Medienmolochs, son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Agonie des Qualitätsjournalismus<br />
im Allgeme<strong>in</strong>en. Die E<strong>in</strong>en klagen über Realitätsverlust<br />
auf allen Seiten, An<strong>der</strong>e die Selbstverliebtheit,<br />
Schweigespiralen und Bandwagon-Effekte.<br />
Doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Punkt s<strong>in</strong>d sich alle Befragten e<strong>in</strong>ig:<br />
Der Zwang, zu früh <strong>in</strong> die Berichterstattung e<strong>in</strong>steigen<br />
und Entwicklungen kommentieren zu müssen,<br />
die sich noch kaum abzeichnen, führt zu e<strong>in</strong>er Kurzatmigkeit,<br />
welche die Nachrichtenlage mehrmals<br />
am Tag über den Haufen werfe und zu e<strong>in</strong>er verantwortungslosen<br />
Sensationalisierung und Aufregung<br />
führe, die <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Medienbranche zu<br />
e<strong>in</strong>er erschreckenden Gedankenlosigkeit bezüglich<br />
<strong>der</strong> eigenen Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie geführt hat.<br />
E<strong>in</strong>ziger Trostspen<strong>der</strong> für den Journalisten bleibt das<br />
Gefühl, nah dran zu se<strong>in</strong> an den Entscheidungsprozessen<br />
<strong>der</strong> politischen Macht, „Politik aus nächster<br />
Nähe“ mitzuerleben (Fried), auch die Welt und ihre<br />
Lenker kennen zu lernen (Wonka). Doch was wahrhaftig<br />
und was bloß Inszenierung ist, wird zuneh-<br />
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