Journalismus in der Berliner Republik - Netzwerk Recherche
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entwicklung, die <strong>in</strong> letzter Konsequenz die Leitfunktion<br />
und Identität <strong>der</strong> sachverständigen Qualitätspresse<br />
angreifen könnte. Schon häufen sich Zweifel<br />
an <strong>der</strong> Zukunftsfähigkeit <strong>der</strong> gedruckten Tageszeitung,<br />
vornehmlich aus <strong>der</strong> Domäne des Magaz<strong>in</strong>journalismus:<br />
„Ich habe früher immer salopp gesagt: E<strong>in</strong>e Zeitung<br />
wird man immer brauchen, denn die liest man auch<br />
auf dem Klo, und man kann e<strong>in</strong>en Fisch dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>wickeln.<br />
Der Fisch wird heute <strong>in</strong> Folie e<strong>in</strong>geschweißt,<br />
und die Leute sitzen mit ihrem Blackberry auf dem<br />
Klo. Beim Laptop war ich mir noch sicher, dass den<br />
niemand mit aufs Klo nimmt, doch den Blackberry<br />
hat man ja immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hosentasche und nutzt<br />
damit das Internet“ (Henn<strong>in</strong>g Krumrey, Focus)<br />
4.2.4. Agenda Sett<strong>in</strong>g: Zusammenfassende<br />
Thesen<br />
� Die Pr<strong>in</strong>zipien des Agenda Sett<strong>in</strong>g im Hauptstadtjournalismus<br />
haben unter dem E<strong>in</strong>druck<br />
des technologischen Wandels e<strong>in</strong>en wesentlichen<br />
Transformationsprozess durchlaufen. Die<br />
neuen publizistischen Determ<strong>in</strong>anten stellen<br />
nicht nur e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für die tägliche<br />
journalistische Arbeit dar, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Frage nach <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Leitmedien im politischen<br />
Diskurs: Die Analyse hat deutlich gezeigt,<br />
dass sich traditionelle Rollenzuweisungen auflösen<br />
und neue Medien, vor allem das Internet,<br />
für die Themensetzung an Bedeutung gew<strong>in</strong>nen.<br />
� Das Agenda Sett<strong>in</strong>g ist von hohen Verfallsraten<br />
und volatilen Themenkarrieren gekennzeichnet.<br />
Die Nachrichtenlage än<strong>der</strong>t sich mehrmals täglich,<br />
was die Hauptstadtjournalisten dazu zw<strong>in</strong>gt,<br />
Ereignisse von kurzfristiger Relevanz zu berücksichtigen<br />
und nachhaltige Themen zu vernachlässigen.<br />
E<strong>in</strong>e Folge ist die um sich greifende politische<br />
Detailberichterstattung, die <strong>der</strong> Orientierungsleistung<br />
für den Mediennutzer entgegensteht.<br />
� Bemängelt wird e<strong>in</strong>e übermäßige Kollegenorientierung,<br />
die unter den Hauptstadtjournalisten<br />
teilweise zu Verunsicherung bei <strong>der</strong> Bildung eigener<br />
Überzeugungen und Me<strong>in</strong>ungen führt und<br />
die (nachrichtliche wie kommentierende) Berichterstattung<br />
bee<strong>in</strong>flusst bzw. tendenziell vere<strong>in</strong>heitlicht.<br />
Ähnliches gilt für die verstärkte <strong>in</strong>haltliche<br />
Ausrichtung an <strong>der</strong> Themensetzung<br />
und Themenaufbereitung <strong>der</strong> wenigen Leitmedien,<br />
die e<strong>in</strong>e zunehmende Selbstreferentialität<br />
mit sich br<strong>in</strong>gen.<br />
� Die Politikberichterstattung ist e<strong>in</strong>em gestiegenen<br />
Exklusivitätszwang ausgesetzt, weshalb<br />
auch vermehrt Boulevard-Themen aufgegriffen<br />
werden. Das liegt zum e<strong>in</strong>en an <strong>der</strong> wachsenden<br />
Bedeutung auflagen- bzw. quotenstarker publizistischer<br />
Zugpferde, die e<strong>in</strong>e ausgeprägte Aff<strong>in</strong>ität<br />
zu Personalisierung und Sensationalisierung<br />
aufweisen (v. a. Bild, allgeme<strong>in</strong> das Fernsehen);<br />
zum an<strong>der</strong>en wird dem Privatleben von Politikern<br />
– zum Beispiel bei Liebesaffären o<strong>der</strong><br />
Krankheiten – immer häufiger politische Relevanz<br />
zugeschrieben, so dass sich selbst die Qualitätsmedien<br />
solchen Themen oft nicht verschließen<br />
können bzw. wollen.<br />
� Die gedruckten Leitmedien (v. a. FAZ, SZ, Der<br />
Spiegel) nehmen weiterh<strong>in</strong> ihre Funktion als<br />
überregionale Agenda Setter wahr. H<strong>in</strong>zugekommen<br />
ist Spiegel Onl<strong>in</strong>e als Leitmedium neuen<br />
Typs, das den Alle<strong>in</strong>stellungswert <strong>der</strong> traditionellen<br />
Presse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Themensetzung erheblich<br />
schmälert. Zum ‚Bildschirmschoner’ <strong>in</strong> den Amts-<br />
und Redaktionsstuben <strong>der</strong> Hauptstadt mutiert,<br />
hat Spiegel Onl<strong>in</strong>e die Führung beim stündlichen<br />
Agenda Sett<strong>in</strong>g übernommen und macht damit<br />
sogar den Agenturen große Konkurrenz, die<br />
deshalb – ergänzend zu ihrem üblichen Nachrichtenportfolio<br />
– <strong>in</strong>zwischen auch Kommentare<br />
und Analysen anbieten. Fernsehen und Radio<br />
haben als Taktgeber dagegen enorm an Bedeutung<br />
verloren: Während nach Aussage <strong>der</strong> Befragten<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die politische Talkshow<br />
stetig an Relevanz e<strong>in</strong>gebüßt hat, wird nur noch<br />
den Nachrichtenformaten <strong>der</strong> öffentlichrechtlichen<br />
Fernsehveranstalter hoher E<strong>in</strong>fluss<br />
auf das Agenda Sett<strong>in</strong>g zugesprochen; beim Radio<br />
übt diese Funktion ausschließlich <strong>der</strong><br />
Deutschlandfunk aus.<br />
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