Vorträge | Attia | Migrant_innenselbstorganisationen – ihr <strong>Beitrag</strong> zur politischen <strong>Partizipation</strong>Gelegenheiten zur Interventionund sind ausschlaggebend für dieLebenslagen, die bewältigt werdenmüssen und die Mittel, diehierzu zur Verfügung stehen bzw.aktiviert werden können. Das bundesdeutscheNationenverständnisinklusive der Migrationspolitik hatfür Post-/Migrant_innen nicht nurzur Folge, <strong>von</strong> politischer <strong>Partizipation</strong>im engeren Sinne weitgehendausgeschlossen zu sein, sondernim Bildungs- und Erwerbsleben,bei der Wohnungssuche und imöffentlichen Leben benachteiligt zuwerden. Die eingeschränkten Zugänge,materiellen Nachteile unddiskursiven Schieflagen bestimmenaber nicht nur die Lebenslagen<strong>von</strong> Post-/Migrant_innen, sondernauch ihre Möglichkeiten, gehört zuwerden und <strong>Ein</strong>fluss zu gewinnen(vgl. Munsch 2010). Die Berücksichtigungdieser gesellschaftspolitischenRahmenbedingungen weistindividualisierende und kulturalisierendeSichtweisen auf Lebenslagen<strong>von</strong> Post-/Migrant_innen undAktionen <strong>von</strong> MO zurück. Vielmehrwird das Politische im Privaten undKulturellen hervorgehoben.Konkret heißt das, dass auch dann,wenn MO Hausaufgabenhilfe, Eheberatungoder Jobvermittlung anbietenoder wenn sie Kultur- undpolitische Veranstaltungen mitBezug zum Herkunftsland <strong>durch</strong>führen,diese Aktivitäten <strong>von</strong> dengesellschaftspolitischen Rahmenbedingungender Bundesrepublik<strong>durch</strong>drungen sind. Insofern istdie in Forschung und Politik üblicheTrennung <strong>von</strong> MO in solche,die sich der Herkunfts- oder aberder Aufnahmegesellschaft zuwenden,irreführend. Sie spiegelt zudemnicht die Aktivitäten der MO,denn in der Regel beschäftigen siesich mit beidem. Allerdings scheinensich mehr MO in Deutschlandmit Themen zu beschäftigen, diemit den Herkunftsländern zu tunhaben, als in anderen <strong>Ein</strong>wanderungsgesellschaften.Dies wird inentsprechenden Studien (zusammenfassendHadeed 2005, Leinberger2006, Munsch 2010) damitbegründet, dass die Herkunftsländerder Post-/Migrant_innen aufGrund der restriktiven deutschenMigrationspolitik interessant bleibenbzw. <strong>von</strong> hier aus werden. Dadie Bundesrepublik Migrant_innennicht als gleichberechtigtenTeil der Gesellschaft anerkenntund ihre Organisationen entsprechendfinanziert und hört, greifenMigrant_innen und MO aufdie Herkunftsländer als Finanzierungsquelleund politische Instanzzurück und behalten sie als Re-/Migrations- und Identifizierungsoptionim Blick. Diese Sichtweiseauf MO wird <strong>durch</strong> den internationalenVergleich belegt: Wenn diegleichen <strong>Ein</strong>wanderer_innengruppensich in verschiedenen Gesellschaftenunterschiedlich formieren,liegt es nahe anzunehmen, dass dasweniger mit der Herkunftskultur der<strong>Ein</strong>gewanderten als mit den Bedingungenim <strong>Ein</strong>wanderungsland zutun hat.In Bezug auf die Themen und Organisationsformen<strong>von</strong> MO inder Bundesrepublik wird darüberhinaus die Rolle der Wohlfahrtsverbändehervorgehoben. Im Zusammenhangmit der Anwerbung<strong>von</strong> Arbeitskräften erhielten sieden staatlichen Auftrag, die <strong>Ein</strong>gewandertenzu betreuen. Bereitsder Auftrag deutet darauf hin, dass<strong>Ein</strong>gewanderte nicht als Interessengruppeverstanden werden, derenInteressen gehört und reguliertwerden sollen, sondern als Unmündige,die der Erziehung bedürfenund für die externe Stellvertretereingesetzt werden. Weder wurdenMO in nennenswertem Umfanggefördert, noch bemühten sich dieWohlfahrtsverbände darum, <strong>Ein</strong>gewandertenRaum zuzugestehen,um ihre Interessen selbst zu vertreten.„Die Betroffenen wurdenbei der Artikulation und Lösungihrer Probleme <strong>durch</strong> die Verbändein den ersten Jahrzehnten weitgehendausgeschlossen. DiesesSpannungsverhältnis zwischen derlogistischen, finanziellen und politischenUnterstützung der Wohlfahrtsverbände[<strong>durch</strong> den Staat,I.A.] einerseits und deren Entmündigungspolitikandererseits führtezur Gründung <strong>von</strong> Organisationenund Vereinen“ (Hadeed 2005, 28).Die Leistungen der MO zeichnetensich <strong>von</strong> Beginn an <strong>durch</strong> einegroße Breite aus (vgl. Hadeed2005). Sie verstehen sich erstensals legitime Interessenvertretunggegenüber der Mehrheitsgesellschaftund ihren Institutionen.Zweitens vermitteln sie zwischenden Interessen und Bedürfnissen<strong>von</strong> Post-/Migrant_innen und Verwaltung,Politik und Regeleinrichtungenund geben Informationenüber diese an Post-/Migrant_innenweiter. Sie knüpfen drittens anverschiedenen Herkunftskulturenan und transformieren diese inder Auseinandersetzung mit ihrenLebensumständen in der Aufnahmegesellschaft.Und sie erbringenviertens Dienstleistungen, die <strong>von</strong>den Regeleinrichtungen gar nichterbracht werden oder aber nichtauf die spezifischen Bedürfnisse<strong>von</strong> Post-/Migrant_innen akzentuiertsind oder in entmündigenderund diskriminierender Form geleistetwerden. Obwohl also <strong>Ein</strong>gewanderte„in ihren Bürgerrechtenbeschnitten sind, haben sie in derVergangenheit und in der GegenwartMittel und Wege gefunden,sich am politischen Leben zu beteiligen.Migrant_innenselbstorganisationenspielen in diesem Zusammenhangeine wichtige Rolle“(Leinberger 2006, 2), denn sie sindin der Lage, die Interessen <strong>Ein</strong>zelnerals Gruppeninteressen zu artikulierenund zu bündeln und so Potenzialzu entwickeln, um <strong>Ein</strong>flusszu gewinnen.Mangels politischer <strong>Partizipation</strong>smöglichkeitenim engeren Sinne12 | Dokumentation | <strong>Inklusion</strong> <strong>durch</strong> <strong>Partizipation</strong>
Vorträge | Attia | Migrant_innenselbstorganisationen – ihr <strong>Beitrag</strong> zur politischen <strong>Partizipation</strong>sind andere Formen der <strong>Partizipation</strong>,wie sie im erweiterten Begriffbenannt werden, umso wichtiger.Im Post-/Migrationskontextsind dies vor allem jene Interventionsmöglichkeiten,die „mittelsÖffentlichkeit auf politische Willensbildungund politische Entscheidungsprozesseein[wirken]“(Leinberger 2006, 2 f.). Der Aufschwung,den diese Formen der<strong>Partizipation</strong> in der bundesdeutschenpolitischen Kultur der letztenJahre erfahren haben, „verhilftsozialer und politischer Aktivität zueinem neuen – höheren – Stellenwert[, … der MO, I.A.] politische<strong>Ein</strong>flussmöglichkeiten außerhalbpolitischer Wahlen“ (ebd., 3) eröffnet.Auch der aktuelle Bezugzu „Diversity Politics“ in verschiedenengesellschaftlichen Bereichenbietet eine günstige Grundlage, umMinderheitenpolitik zu fördern. ImUnterschied zu einer Politik, dievom Glauben an und dem Strebennach Konsens und <strong>Ein</strong>heit getragenist und damit regelmäßig marginalisiertePositionen missachtet, vermages eine Politik, die Vielfalt imKontext sozialer Ungleichheit versteht,„dominante Positionen undSichtweisen in Frage zu stellen undnicht-normative Lebensformen zubefördern“ (Munsch 2010, 37). Insofernbestehen derzeit gute Aussichtenauf eine Änderung der politischennationalen Kultur mit ihrenEffekten für Minderheitenrechteund für Aktivitäten <strong>von</strong> MO.Auf lange Sicht wird das für dieAktivitäten <strong>von</strong> MO Folgen haben;das kann derzeit bereits beobachtetwerden. Und es wird sicherlichauch Folgen haben für die Organisationsformen,die sich auf diesich verändernden Bedingungeneinstellen werden. Die große Breitean Aktivitäten <strong>von</strong> MO wirdda<strong>durch</strong> wohl nicht geschmälertwerden, denn sie ist Ausdruck derpolitisch-gesellschaftlichen Situation<strong>von</strong> Post-/Migrant_innen undzielt nach wie vor auf ihre Verbesserung.Die Arbeit wird allerdingserschwert <strong>durch</strong> die Breite derThemen, die in den meisten Fällen<strong>von</strong> jeder einzelnen MO erbrachtwird und damit einer Spezialisierungund Professionalisierung entgegenwirkt.In Ballungsgebietenund Großstädten konnten dennochspezialisierte <strong>Ein</strong>richtungenund Dachverbände aufgebaut werden.Das sieht in Gegenden, in denenweniger Post-/Migrant_innenleben, noch weitgehend andersaus. Die Arbeit <strong>von</strong> MO wird aberinsbesondere <strong>durch</strong> die schlechtefinanzielle Ausstattung und die gesellschaftspolitischenRahmenbedingungenerschwert.Die politische Kultur ist nach wievor geprägt <strong>durch</strong> eine Haltung,die MO inzwischen zwar punktuellhört, sie aber nicht regelmäßigals legitime Vertreterinnen einerTeilgruppe dieser Gesellschaft einbezieht,die mit entsprechendenRechten ausgestattet ist. Immernoch werden eher die Wohlfahrtsverbändeund Regeleinrichtungenstellvertretend und advokatorischangefragt, statt sich selbstverständlichund zuerst an die Selbstorganisationenund ihre inzwischenvorhandenen Dachverbändezu wenden. Die erschwerendenRahmenbedingungen verdankensich zudem der andauernden Entrechtungeines Teils der Bevölkerung.Insbesondere Flüchtlinge undundokumentierte Migrant_innenleben in prekären Verhältnissen,ihre Interessenvertretungen sindauf Grund ihrer politischen Positionmarginal. Insofern wird hieraufin Zukunft sicherlich ein Schwerpunktder Arbeit <strong>von</strong> MO und ihrerDachverbände liegen. Denn der<strong>Beitrag</strong> <strong>von</strong> MO zur politischen <strong>Partizipation</strong><strong>von</strong> Post-/Migrant_innenmisst sich letztlich an den Erfolgen,die für jene Gruppen erreicht werden,die am stärksten marginalisiertund entrechtet werden. Dasshierzu MO notwendig sind, ergibtsich aus der politischen Kultur derBundesrepublik und ihrem Nationenverständnis.Insofern sind zuallererstdie Bundesrepublik und ihreRegeleinrichtungen danach zu fragen,wie sie gedenken, ihren <strong>Beitrag</strong>zur gleichberechtigten politischen<strong>Partizipation</strong> Aller zu leisten.Literatur:• Hadeed, Anwar (2005): Selbstorganisationim <strong>Ein</strong>wanderungsland.<strong>Partizipation</strong>spotenziale<strong>von</strong> Migrant_innen-Selbstorganisationenin Niedersachsen,Oldenburg• Leinberger, Katharina (2006):Migrant_innenselbstorganisationenund ihre Rolle als politischeInteressenvertreter. AmBeispiel zweier Dachverbände inder Region Berlin-Brandenburg,Münster• Munsch, Chantal (2010): Engagementund Diversity. Der Kontext<strong>von</strong> Dominanz und sozialerUngleichheit am Beispiel Migration,Weinheim, München• Toksöz, Gülay (1991): „Ja, siekämpfen – und sogar mehr als dieMänner“. ImMigrant_innen-Fabrikarbeitund gewerkschaftlicheInteressenvertretung, BerlinDokumentation | <strong>Inklusion</strong> <strong>durch</strong> <strong>Partizipation</strong> | 13