Die Kameliendame - GarboForever.com
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Zwölftes Kapitel<br />
Um fünf Uhr früh, als das Morgenlicht durch die Vorhänge<br />
drang, sagte Margarete zu mir: „Verzeih mir, lieber Freund, dass ich<br />
dich fortschicke, aber es muss sein, der Herzog kommt jeden Morgen.<br />
Man wird ihm antworten, dass ich noch schlafe, wenn er nach<br />
mir fragt, und er wird vielleicht warten, bis ich erwache.“<br />
Ich nahm Margaretens Kopf mit den aufgelösten Haaren in beide<br />
Hände, gab ihr noch einen Kuss und sagte: „Wann werden wir uns<br />
wieder sehen?“<br />
„Höre“, sagte sie, „nimm den kleinen vergoldeten Schlüssel, der<br />
auf dem Kamin liegt. Es ist der Türschlüssel. Schließe die Tür auf,<br />
bringe den Schlüssel wieder zurück und geh. Heute wirst du einen<br />
Brief mit meinen Befehlen erhalten, denn du weißt, dass du blind<br />
gehorchen musst.“<br />
„Ja, das weiß ich ... Aber wenn ich nun auch etwas verlangte –“<br />
„Was denn?“<br />
„Mir diesen Schlüssel zu lassen.“<br />
„Du bist argwöhnisch?“<br />
„Nein, ich will mich nur beruhigen.“<br />
„Armand, ich habe noch für niemand getan, was du von mir verlangst.“<br />
„Nun, so tu es für mich, denn ich schwöre dir, dass noch niemand<br />
dich so geliebt hat, wie ich dich liebe.“<br />
„Nun, so behalte den Schlüssel; aber ich sage dir im Voraus, dass<br />
es nur von mir abhängt, diesen Schlüssel ganz unbrauchbar für dich<br />
zu machen.“<br />
„Warum?“<br />
„Es sind Riegel an der Tür.“<br />
„Böses Mädchen!“<br />
„Ich werde sie abnehmen lassen.“<br />
„Du bist mir also ein bisschen gut?“<br />
„Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber es scheint mir in der Tat so<br />
... jetzt geh, die Augen fallen mir zu.“<br />
Wir lagen einander noch einige Minuten in den Armen. Dann<br />
entfernte ich mich.<br />
<strong>Die</strong> Straßen waren leer, die große Stadt lag noch in tiefem Schlafe;<br />
eine wohltuende, erfrischende Stille erfüllte diesen Stadtteil, der<br />
einige Stunden später sein gewohntes Geräusch und Gewühl wieder<br />
annehmen sollte.<br />
Es kam mir vor, als ob die schlummernde Stadt mir gehörte. Ich<br />
suchte in meinem Gedächtnis die Namen derer, die ich bisher um<br />
ihr Glück beneidet hatte, und es fiel mir nicht einer ein, mit dem ich<br />
hätte tauschen mögen.<br />
Von einem keuschen Mädchen geliebt zu werden und der Erste<br />
zu sein, der ihm das wundervolle Geheimnis der Liebe enthüllt, ist<br />
gewiss ein großes Glück, aber es ist die einfachste Sache von der<br />
Welt. Sich eines Herzens zu bemächtigen, das noch keinen Angriff<br />
ausgehalten hat ist ungefähr dasselbe, als wenn man in eine offene<br />
uni jeder Besatzung entbehrende Stadt einzieht. Nichts ist so leicht<br />
zu haben wie ein junges Mädchen. <strong>Die</strong> Erziehung, das Pflichtgefühl<br />
und die Verwandten allerdings sehr starke Hüter, aber ein sechzehnjähriges<br />
Mädchen weiß jeden Hüter zu überlisten; es erhält durch<br />
die Stimme des geliebten Mannes die ersten Unterweisungen, und je<br />
reiner diese Worte sind, desto glühender sind sie.<br />
Je reiner und argloser eine Jungfrau ist, desto leichter gibt sie<br />
sich hin; denn da sie ohne Misstrauen ist, so ist sie ohne Kraft: Es<br />
ist ein Sieg, den jeder Mann von fünfundzwanzig Jahren erringen<br />
kann, wenn er will. Deshalb werden auch die jungen Mädchen so<br />
streng beaufsichtigt und mit so ängstlichen Vorsichtsmaßregeln<br />
umgeben. <strong>Die</strong> Mauern der Klöster sind nicht hoch genug, die von<br />
den Müttern angelegten Türschlösser nicht stark genug, die Pflichten<br />
der Religion nicht streng genug, um diese lieblichen Vögel in<br />
ihrem Käfig, den man nicht einmal mit Blumen bestreut, dauernd<br />
festzuhalten. Kann man sich wundern, dass sie sich sehnen nach der<br />
Welt, sie für reizend und lockend halten, und dass sie der ersten<br />
Stimme, die ihnen durch die Gitterstangen die Geheimnisse derselben<br />
mitteilt, so gern Gehör schenken und die Hand segnen, die zuerst<br />
den Schleier lüftet, der dieses Eden ihren Blicken entzog?<br />
Aber einer Buhlerin wahre liebe einzuflößen ist ein weit schwererer<br />
Sieg. Bei ihnen ist durch Sinnenlust das Gemüt abgestumpft,<br />
das Herz ausgebrannt, das Gefühl mit einem Panzer umgeben. Was