WANDEL Richard Reich alias Turnlehrer Meyer: «Ich sage nur: Ohne gerade Wirbelsäule keine immerwährende Neutralität!» Foto: Vorname Name 26 Credit Suisse Bulletin 5|<strong>01</strong>
INSEL Ist die Schweiz eine Insel? Ja, was denn sonst?! Um dem Inseldasein der Schweizer auf den Grund zu gehen, gibt Autor und NZZ-Kolumnist Richard Reich Turnlehrer Meyer das Wort. Fotos: Pia Zanetti Sehr geehrtes Organisationskomitee! Ich bestätige hiermit den Eingang Ihres Schreibens vom 4. August dieses Jahres, worin Sie mich auffordern, einen tragenden Beitrag zu Ihrer Publikation «Die Welt an und für sich unter spezieller Berücksichtigung der Schweiz» zu verfassen. Es ist für mich natürlich eine Selbstverständlichkeit, nein: eine Ehre, alles mir Mögliche zum Gelingen dieses von der schweizerischen Öffentlichkeit ja nur zu lange schmerzlich entbehrten zukünftigen Standardwerks beizusteuern. Zugleich ist dies für mich, wie Sie sich wohl vorstellen können, eine höchst willkommene Gelegenheit, um einmal die ganzen Erkenntnisse und den ganzen Erfahrungsschatz eines ereignisreichen Lebens an geeigneter Stelle ausbreiten zu können. Deshalb habe ich mich, dies nur nebenbei, auch sofort vom Schuldienst freistellen lassen, um so dieser grossen Aufgabe meine geringen Kräfte wirklich ungeteilt zukommen lassen zu können. Natürlich wollte mein Rektor zwar zuerst gar nichts wissen davon. Meyer, sagte er, Meyer, was müssen Sie als Turnlehrer immer auch noch solches Zeug schreiben wollen?! Sagen Sie einmal, Meyer, sagte mein Rektor, ist Ihnen Ihr Beruf vielleicht nicht gut genug, dass Sie ums Verrecken immer auch noch in andern Fächern auffallen müssen? Ich meine, jetzt mal ehrlich, Meyer, sagte mein Rektor, wie wollen ausgerechnet Sie als wandelnde Reckstange, ausgerechnet Sie als x-beiniger Barren-Clown jetzt ausgerechnet etwas zu einem so grossen Topos wie «Die Welt an und für sich unter spezieller Berücksichtigung der Schweiz» zu sagen haben? Ich muss Ihnen, sehr geehrtes Organisationskomitee, ja wohl nicht erklären, dass so ein Rektor naturgemäss nicht die leiseste Ahnung hat, wie sehr gerade ein Turnlehrer mit allen Inhalten und Aspekten des privaten und öffentlichen Lebens konfrontiert ist. Ich sage nur: Ohne corps sanus keine mensa sana! Ich sage nur: Ohne geschulten Volkskörper keine stabile Eidgenossenschaft! Ich sage nur: Ohne gerade Wirbelsäule keine immerwährende Neutralität! Sie wissen, was ich meine. Nur wusste das mein Rektor nicht. Ums Verrecken wollte er nichts davon wissen. Erst als ich ihn darauf hinwies, dass heuer sowieso gerade mein dreissigjähriges Dienstjubiläum anfällt und dass ich daher von Rechts wegen einen längeren Urlaub zugut hätte, gab er sich, wenn auch sichtlich sauer, endlich geschlagen. Wie Sie also sehen können, sehr geehrtes Organisationskomitee, war mir kein Aufwand zu gross und kein Risiko zu gering, um der mir von Ihnen gestellten Aufgabe genügen zu können. Dies obwohl, und das muss ich bei allem Respekt nun doch hier einfliessen lassen, mich das von Ihnen mir zugeteilte, also das mir von Ihrem Komitee zugedachte Thema, ehrlich gesagt, am Anfang schon etwas irritiert hat. Ich musste, ehrlich gesagt, fast mit den Tränen kämpfen, als ich mir all die andern spannenden Kapitel des zukünftigen Buches vor Augen führte: Credit Suisse Bulletin 5|<strong>01</strong> 27