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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 87 · 1 3./14. April 2019 3· ·<br />
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Report<br />
Haplogruppen* (Y-Chromosom)<br />
Gruppen<br />
R1b<br />
R1a<br />
I1a<br />
I2a<br />
I1c<br />
E1B1<br />
J<br />
G<br />
N<br />
Q<br />
PORTUGAL<br />
Verbreitung<br />
dominant in Westeuropa<br />
dominant östlich der Elbe<br />
hauptsächlich Skandinavien<br />
stark auf dem Balkan<br />
vor allem Deutschland, Niederlande<br />
stark in Griechenland, Türkei, Portugal<br />
Griechenland, Türkei, Israel<br />
Schweiz, Frankreich, Spuren überall<br />
Finnland, Baltikum, Russland<br />
Ungarn, Rumänien, Ukraine<br />
*Damit werden typische Muster auf einem Chromosom im Genom eines Menschen beschrieben. Mit deren<br />
Hilfe kann man genetisch verwandte Personengruppen innerhalb der Bevölkerungen definieren.<br />
IRLAND<br />
Die Verteilung von Haplogruppen<br />
in Europa ist das Ergebnis von<br />
Vermischung.Europäer,Afrikaner und<br />
Asiaten ähneln sich genetisch so<br />
sehr,dass sie nicht sinnvoll in klar<br />
umrissene Großgruppen eingeteilt<br />
werden können. Neue Forschungsergebnisse<br />
können die hier gezeigten<br />
Daten jeweils leicht verschieben.<br />
Auch erfolgen gelegentlich Neubezeichnungen<br />
von (Unter-)Gruppen.<br />
SPANIEN<br />
Herkunft<br />
Asien<br />
Asien<br />
vermutlich Balkan, Iberische Halbinsel<br />
Mittlerer Osten<br />
Balkanhalbinsel, Schwarzes Meer<br />
Nordafrika, Westasien<br />
Nahost<br />
Kleinasien<br />
Südostasien<br />
Zentralasien<br />
WALES<br />
SCHOTTLAND<br />
ENGLAND<br />
FRANKREICH<br />
Die Europa-Karte zeigt den<br />
Gen-Mix in den verschiedenen<br />
Regionen: Die Herkunftsbestandteile<br />
sind<br />
überall dieselben, nur sind<br />
sie unterschiedlich proportioniert.<br />
Deutschland hat von<br />
allem eine Menge.<br />
NIEDERLANDE<br />
BELGIEN<br />
SCHWEIZ<br />
TYPISCH MITTELEUROPA<br />
Die individuelle Karte von<br />
MarittaTkalec, erstelltvom<br />
Ahnenforschungsportal Ancestry,passt<br />
ins Muster.<br />
Übersetzt in die Farben der<br />
Europakarte würden Rot,<br />
Dunkelgrün und Gelbplus etwas<br />
Dunkelblau dominieren.<br />
ISLAND<br />
DÄNEMARK<br />
NORWEGEN<br />
DEUTSCHLAND<br />
ÖSTERREICH<br />
ITALIEN<br />
Der DNA-Test vonAncestry<br />
kostet 89 Euro. Das Test-Set<br />
wird online bestellt (ancestry.de/dna/activate).<br />
Das zugesandte Päckchen<br />
beinhaltet das Röhrchen für<br />
die Speichelprobe und die<br />
Anleitung für das Vorgehen.<br />
TSCHECHIEN<br />
KROATIEN<br />
SCHWEDEN<br />
POLEN<br />
SLOWAKEI<br />
UNGARN<br />
SERBIEN<br />
ALBANIEN<br />
FINNLAND<br />
ESTLAND<br />
LITAUEN<br />
GRIECHENLAND<br />
LETTLAND<br />
RUMÄNIEN<br />
BULGARIEN<br />
wenn unter den vier Großeltern solche<br />
mit Wurzeln auf dem Balkan<br />
oder in Polen sind.“ Dergroße grüne,<br />
bis zum Baikal reichende Fleck auf<br />
der Ancestry-Herkunftskarte bezeichne<br />
eher die Region, in der heute<br />
slawische Sprachen gesprochen<br />
werden, nicht die Herkunftsgebiete<br />
der genetischen Vorfahren. Immerhin:<br />
In der grünen Zone liegt auch<br />
die Steppenregion, aus der die Leute<br />
mit Pferd, Rad und Wagen kamen –<br />
die ur-indoeuropäische Sprache im<br />
geistigen Gepäck.<br />
Peters, Forschungsgruppenleiter<br />
am Max-Planck-Institut für Evolutionäre<br />
Anthropologie, gibt einen<br />
entscheidenden Hinweis für dasVerständnis<br />
der Herkunftskarte und der<br />
Genanalysen generell: „Nur 0,4 Prozent<br />
der individuellen Varianz kann<br />
durch Herkunft erklärt werden. Zu<br />
99,6 Prozent ist die genetische Ausstattung<br />
aller Europäer gleich, beziehungsweise<br />
in Teilen unerklärt.“<br />
Die Labore solcher Unternehmen<br />
wie Ancestryschauen Benjamin Peter<br />
zufolge von den drei Milliarden Positionen<br />
der Basenpaare etwa 700 000<br />
Positionen an, die sogenannten<br />
SNPs. Auf diesen Positionen liegen<br />
die Unterschiede, sagt Peter. „Wenn<br />
man so viele SNPs anschaut, kann<br />
man auch lokalisierte Aussagen treffen.“<br />
Für ihn signalisiert die Forschung<br />
eindeutig: „Die Gene kennen<br />
keine Grenzen. Es gibt nicht den typischen<br />
Deutschen, Schweizer oder<br />
Schweden. Alle hundert Kilometer<br />
ändertsich irgendwas.“<br />
WEISS-<br />
RUSSLAND<br />
RUSSLAND<br />
UKRAINE<br />
TÜRKEI<br />
Landesgrenzen, Nationalstaaten<br />
oder ähnliche junge Konstrukte<br />
spielen also keine Rolle.Die abgebildete<br />
Karte führt esvor Augen: Das<br />
Europa-Allerlei besteht hier wie da<br />
aus denselben Zutaten –bloß in unterschiedlicher<br />
Dosierung. Die Abstufungen<br />
verschwimmen ausgerechnet<br />
dort, wo sich vermeintlich<br />
unterschiedliche Völker ihr jeweils<br />
„Besonderes“ zugutehalten:<br />
Schauen Sie nur auf die Törtchen<br />
Griechenlands, Albaniens und der<br />
Türkei. Oder die Frankreichs und<br />
Deutschlands. Europa kennt keine<br />
genetischen Grenzen, Ländergrenzensind<br />
genetisch nicht erklärbar.<br />
Rasse ist ein soziales Konstrukt.<br />
Rasse und genetische Herkunft sind<br />
nicht identisch –daran zweifelt kein<br />
BLZ/GALANTY<br />
ernst zu nehmender Forscher. Der<br />
US-amerikanische Genetiker RichardLewontin<br />
schlussfolgerte nach<br />
jahrzehntelanger Forschung zu Themen<br />
wie Mutation und Evolution:<br />
„Rasse geht nicht unter die Haut.“<br />
Obwohl das Rasse-Konzept genetisch-biologisch<br />
längst keine Rolle<br />
mehr spielt: Gesellschaftlich tut es<br />
das –inneuem Kleide –sehr wohl.<br />
Der Hobby-Volkskundler und AfD-<br />
Politiker Björn Höcke zum Beispiel<br />
hat dazu eigene Erkenntnisse. Die<br />
Propagierung eines „völkischen<br />
Reinheitsideals“ nennt er zwar Unfug,<br />
denn zur„germanischen Grundsubstanz“<br />
seien ja andereAnteile gekommen.<br />
Gleichwohl reklamiert er<br />
ein„angestammtes Siedlungsgebiet“<br />
der Deutschen, wer auch immer<br />
diese Deutschen angesichts der<br />
bunten Herkunftsmischung gewesen<br />
sein sollen. Ansonsten träumt er<br />
davon, dass Kulturen jeweils in möglichst<br />
homogenen Räumen verbleiben<br />
und sich untereinander nicht<br />
vermischen sollen.<br />
Daswäreetwas ganz Neues in der<br />
Geschichte der Menschheit, aber<br />
kleiner macht Höcke es nicht, denn<br />
schließlich wiederholt er immer wieder,<br />
die AfD sei die „letzte evolutionäre<br />
Chance“ für Deutschland. DieserMann<br />
hat Visionen!<br />
Geil und mobil<br />
Genug davon und zurück zur Wissenschaft.<br />
In bester Manier erzählt<br />
der britische Genetiker Adam Rutherford<br />
indem kürzlich erschienenen<br />
Buch „Eine kurze Geschichte<br />
von jedem, der jemals gelebt hat“,<br />
wie unsere Vorfahren „geil und mobil“<br />
durch den Kontinent zogen und<br />
die Durchmischung fortwährend in<br />
Gang hielten. Man kann das heute<br />
mit dem neuem Wissen und den<br />
Möglichkeiten vonGenetik und Molekularbiologie<br />
erzählen, weil die<br />
untersuchte DNA vonMenschen aus<br />
allen möglichen Zeitalternunzählige<br />
Fährten auf deren Wegen ans Licht<br />
holt und nachverfolgbar macht.<br />
Leipziger Forscher extrahierten<br />
DNA aus Backenzähnen eines Individuums,<br />
das vor 40000 Jahren in<br />
der Denisova-Höhle im Altai lebte.<br />
Seine Fähigkeit, in großer Höhe mit<br />
wenig Luftsauerstoff auszukommen,<br />
existiertinden Genen heutiger Tibeter<br />
weiter. Die menschliche Erbsubstanz<br />
ist zur unschätzbar wertvollen<br />
historischen Quelle geworden, und<br />
die Genetiker sind zu Historikerngeworden,<br />
die Teile der Menschheitsgeschichte<br />
neu schreiben. Und das<br />
alles fängt erst an!<br />
Ganz nebenbei haben sie die biologistischen<br />
Rassenkonzepte, die<br />
nichts vonGenetik verstanden, diese<br />
aber umso hemmungsloser missbrauchten,<br />
vom Tisch gewischt. Rutherfordschreibt:<br />
„Es geht nicht länger<br />
um ‚Blut‘, das mithilfe zahlloser<br />
Mythen Dynastien und Völker definieren<br />
soll, sondern umGene, also<br />
um real fassbare, chemische Komponenten<br />
allen Lebens, die das Erstaunlichste<br />
zustande bringen: dass<br />
man die Menschheit als Gemeinschaft<br />
erkennt und zugleich jeden<br />
Einzelnen als unverwechselbares,<br />
einzigartiges Individuum.“<br />
Überholt ist auch die Vorstellung,<br />
es gebe Stammbäume, die quasi linear<br />
die Folge vonVorfahren aufzeigen.Vielmehr<br />
zeigt sich der Baum als<br />
dichtes Gestrüpp, weil sich Linien<br />
unzählige Male kreuzen. Johannes<br />
Krause,einer der weltweit führenden<br />
Genforscher, hat eine kurze Antwort<br />
auf die Frage, wer wir sind: „An der<br />
Mixtur erkennt man, dass der Europäer<br />
ein Europäer ist.“<br />
Maritta Tkalec<br />
blickt in die Tiefen ihrer DNA<br />
und findet lauter Verwandte.<br />
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