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Berliner Zeitung 13.04.2019

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13./14. APRIL 2019 7<br />

Für Racha Kirakosian ist es noch<br />

morgens, als wir an einem Donnerstag<br />

Ende Märzum15Uhr über<br />

Skype zum Gespräch zusammenfinden.<br />

Sechs Stunden beträgt der Zeitunterschied<br />

zwischen Berlin und Boston und damit<br />

zur Eliteuniversität Harvard, wo Kirakosian<br />

seit 2014 unterrichtet. Die 33-Jährige<br />

wuchs in Hessen auf, hat in Göttingen und<br />

Paris studiert und in Oxford promoviert.<br />

Heute ist sie außerordentliche Professorin<br />

für Deutsch und Religionsgeschichte in Harvard<br />

und forscht unter anderem zur mittelalterlichen<br />

Mystik und Kultur sowie zu mittelalterlichen<br />

Heiligenfiguren. Seit 2017 bietet<br />

sie einen Kurs mit dem Titel „The Real Game<br />

of Thrones: Culture, Society, and Religion in<br />

the Middle Ages“ an. Im Gespräch erzählt Kirakosian,<br />

wie sie die derzeit populärste Serie<br />

an die berühmteste Universität brachte,und<br />

natürlich, wer ihrer Meinung nach am Ende<br />

auf dem Eisernen Thron sitzt.<br />

Wiesind Sieauf die Idee gekommen, eineVorlesung<br />

über „Game of Thrones“ anzubieten?<br />

Meine Studenten haben mich auf die Serie<br />

hingewiesen. In einem Kurs an der Universität<br />

Oxford haben wir das Nibelungenlied<br />

behandelt. Ein Heldenepos aus dem 13.<br />

Jahrhundert. Unddahaben viele gesagt: Ah,<br />

das ist ja wie „Game of Thrones“. Ehrlich gesagt<br />

kannte ich die Seriebis dahin gar nicht.<br />

Und dann haben Sie die Serie gleich in Ihr<br />

Seminar integriert?<br />

Nicht sofort, erst mal habe ich gesagt:<br />

Leute, kriegt mal eure Chronologie richtig<br />

hin! Wenn überhaupt, ist „Game of Thrones“<br />

wie das Nibelungenlied. Als ich dann 2014 in<br />

die USA an die HarvardUniversität gegangen<br />

bin, ist gerade die vierte Staffel der Serie angelaufen.<br />

Auf den zahlreichen Plakaten ist<br />

mir dann auch aufgefallen, wie sehr die Serie<br />

visuell an das Mittelalter erinnert. Unddann<br />

habe ich angefangen, mir das reinzuziehen<br />

und in meinen Kurs zum Mittelalter einzubinden.<br />

Mitwelchem Ziel?<br />

In meiner Vorlesung sind Studenten aus<br />

allen möglichen Fächern. Die Frage, die ich<br />

mir stelle, ist: Warum sollen sich Studenten<br />

im 21. Jahrhunderts für das europäische Mittelalter<br />

interessieren? Vorallem internationale<br />

Studenten. Wenn ich jetzt hier ein Seminar<br />

anbieten würde mit dem Titel„Das Nibelungenlied“,<br />

dann kriege ich vielleicht zwei<br />

Nerds. Aber die sind schon überzeugt davon,<br />

dass das Mittelalter cool ist.<br />

Sprich, Siewollen Ihren Kurs durch „Game of<br />

Thrones“ attraktiver machen?<br />

Auch, aber nicht nur. Es geht erst mal<br />

darum zu sagen: Okay, esgibt offensichtlich<br />

viele Menschen auf der ganzen Welt, die sich<br />

für „Game of Thrones“ interessieren. Spannend<br />

ist jetzt zu sehen, wie diese Fantasy-<br />

Welt eigentlich aufgebaut ist. Und die Serie<br />

ist nun mal so angelegt, dass wir damit das<br />

europäische Mittelalter verbinden. Die<br />

meisten schauen sich diese Serieanund haben<br />

viele Fragen. Wasist Inspiration? Wasist<br />

historisch adäquat? Zuerst geht es also<br />

darum, Basiswissen über das Mittelalter zu<br />

vermitteln, um das dann mit der Serie vergleichen<br />

zu können.<br />

Können Sieein Beispiel nennen?<br />

Die erste Vorlesung beginne ich immer<br />

mit den Eisenmännernvon den Eiseninseln.<br />

Die sind eindeutig an die Wikinger angelehnt.<br />

In der Serie und den Romanen von<br />

George R. R. Martin ist das ein homogenes<br />

Volk. In Wirklichkeit waren die Wikinger aber<br />

nicht ein einziges Volk, sondern bestanden<br />

aus ganz verschiedenen Seevölkern. Siewurden<br />

zwar unter anderem von Dänen angeführt,<br />

aber waren eben trotzdem total gemischt.<br />

Dasist so das erste Stereotyp,das ich<br />

Ein bisschen wie ein Wikinger,aber eigentlich ganz anders: der Eisenmann Euron Graufreud in „Game of Thrones“.<br />

Westeros<br />

als Wissenschaft<br />

Die Harvard-Professorin Racha Kirakosian erklärt Studenten mit der<br />

Serie „Game of Thrones“, warum das Mittelalter heute noch spannend ist<br />

aufbrechen will, beziehungsweise mit dem<br />

ich zeigen will, dass in „Game of Thrones“<br />

viel mit solchen Stereotypen gearbeitet wird.<br />

Also geht es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

zwischen Serie und mittelalterlicher<br />

Geschichte?<br />

Auch, aber im Kurs geht es um viel mehr.<br />

Wir schauen uns an, wie das Mittelalter in<br />

anderen Epochen rezipiert wurde.Wir lesen<br />

zum Beispiel SirWalter Scotts„Ivanhoe“. Das<br />

ist ein Roman aus der Romantik, in dem ein<br />

idealisiertes Bild des Mittelalters vermittelt<br />

wird, das es so nie gegeben hat. D>as führt<br />

sich so fortbis zu Tolkien mit seinem Hobbit.<br />

Interview: Daniel Böldt<br />

Stereotypen aufbrechen: Racha Kirakosian<br />

forscht in Harvard zur Kultur des Mittelalters.<br />

HBO, KATE TRAVERS<br />

„Herr der Ringe“ schauen Sieauch noch?<br />

Nicht die Verfilmung selbst, aber die Studenten<br />

lesen „Der kleine Hobbit“, und wir<br />

untersuchen die Karten, die Tolkien für seine<br />

Fantasy-Welt entworfen hat. Darauf sieht<br />

man, dass im Westen die Hobbits leben. Da<br />

herrscht Friede, Freude, Eierkuchen. Und<br />

dann kommt ein Strich in der Karte, der beschrieben<br />

wird als „Edge of the Wild“, und<br />

dahinter beginnt das „Wilderland“. Das ist<br />

alles im Osten, wo der Drache ist, und wer<br />

weiß was für monströse Völker.Diese Aufteilung<br />

der Welt ist total spannungsgeladen. In<br />

„Game of Thrones“ ist das ganz ähnlich.<br />

Westeros sieht auf der Karte schon einmal<br />

aus wie Großbritannien. Alle Hauptcharaktere<br />

sprechen mit einem britischen Akzent.<br />

Essos ist dagegen weitgehend unbekannt,<br />

die Menschen sprechen fremde Sprachen.<br />

Dassind Muster,die eine lange Tradition haben.<br />

Auf den Karten des Mittelalters kann<br />

man zum Beispiel sehen, dass die Apokalypse<br />

im Osten beginnt, mit monströsen Geschöpfen,<br />

die die Welt einnehmen. In der<br />

Forschung wirddieses Muster,den Osten als<br />

fremd und gefährlich wahrzunehmen, mit<br />

dem vonEdwardSaid geprägten Begriff Orientalismus<br />

beschrieben.<br />

Der Begriff Orientalismus bezieht sich nicht<br />

nur auf Karten, sondern auch auf andere Interpretationsmuster.<br />

Genau, ich habe meinen Studenten mal<br />

ein Bild von Attila dem Hunnen aus der<br />

Adaption des Nibelungenlieds von Fritz<br />

Lang gezeigt und gefragt, was sie sehen. Und<br />

da hat einer tatsächlich gesagt: „Ich sehe einen<br />

Wilden.“ Da habe ich geantwortet: „Ah,<br />

interessant, Sie haben jetzt schon interpretiert.<br />

Denn was sehen wir da eigentlich? Eine<br />

Frisur,die viel Pflege braucht, was schon mal<br />

ein Zeichen vonZivilisation ist. Dann hat der<br />

Mann viele Ketten um. Dasheißt, er ist reich.<br />

Dersitzt sogar auf einem Thron.Warummeinen<br />

Sie, Sie sehen einen Wilden?“ Das war<br />

eine super Gelegenheit, zu zeigen, dass wir<br />

Muster in unserem Hirn abgespeichert haben,<br />

nach denen wir gewisse Bilder beurteilen.<br />

„Game of Thrones“ baut auf ähnliche<br />

Muster auf. Wenn ein neuer Charakter in die<br />

Handlung kommt, wissen wir, wie wir den<br />

beurteilen können und was passiert. Dassollen<br />

die Studenten erkennen. Natürlich<br />

macht es Spaß, sich „Game of Thrones“ anzuschauen.<br />

Aber das heißt nicht, dass ich<br />

nicht darüber reflektieren kann.<br />

Wie wird der Kurs von den Studenten angenommen?<br />

Sehr gut. Ichhabe um die sechzig Studenten<br />

in der Vorlesung, was für Harvard sehr<br />

viele sind. Mir geht es darum, dass Studenten,<br />

wenn sie solche Fantasy-Shows konsumieren,<br />

auch darüber nachdenken können.<br />

Warumgefällt uns das eigentlich so und was<br />

bedeutet das? Wirhaben viele internationale<br />

Studenten, die eine andere Perspektive auf<br />

die Serie haben. Da geht es dann zum Beispiel<br />

um die Frage: Ist kulturelle Aneignung<br />

in der Kunst in Ordnung? Da kommt es<br />

manchmal zu ganz schön politischen Diskussionen.<br />

Waswirddagenau diskutiert?<br />

Da geht es oft um den schon angesprochenen<br />

Orientalismus.Einige Studenten haben<br />

Tolkien und George R. R. Martin sehr<br />

starkverteidigt. Dasist auch völlig verständlich,<br />

die instrumentalisieren und politisieren<br />

ihre Welt ja nicht. Aber es ist eben nun mal<br />

Fakt, dass es hier in Amerika eine rassistische<br />

Bewegung gibt, die eine weiße Vorherrschaft<br />

propagiert und dabei auf das europäische<br />

Mittelalter und auch auf Fantasy-Welten verweist.<br />

Das ist natürlich totaler Wahnsinn.<br />

Aber da sehen wir,dass es instrumentalisiert<br />

werden kann und wie das funktioniert.<br />

AndereStudenten haben dagegen gehalten?<br />

Ja, hauptsächlich internationale Studenten,<br />

die nicht aus Europa stammen. Dienehmen<br />

„Game of Thrones“ zum Teil ganz<br />

anders wahr. Die haben die Serie auch total<br />

gern geschaut, aber sie stört zum Beispiel,<br />

dass niemand aus Essos ein Hauptcharakter<br />

ist. Eine Studentin hat einmal kritisiert, dass<br />

man anhand des Akzents bereits weiß,<br />

woher ein neuer Charakter kommt und<br />

welche Rolle der wahrscheinlich spielen<br />

wird. Das habe sie an ihre eigene reale Welt<br />

erinnert.<br />

Konnten Sieselbst die Serie genießen oder saßen<br />

Siemit gespitzten Bleistift davor?<br />

Ich musste mich am Anfang tatsächlich<br />

etwas überwinden. Viele Momente schließen<br />

bewusst an das Mittelalter an, sind aber<br />

historisch absolut inadäquat. Mitgeschrieben<br />

habe ich nicht, weil es auch nicht eins zu<br />

eins Parallelen gibt, sondern eher Aspekte,<br />

die sich durch die ganzeSerie ziehen, wie die<br />

Kleidung oder die Genderrollen. Irgendwann<br />

war ich aber auch richtig imPlot drin<br />

und konnte die Seriedann auch genießen.<br />

Nächste Woche beginnt die letzte Staffel der<br />

Serie. Wer sitzt am Ende auf dem Eisernen<br />

Thron?<br />

Ich hoffe ja, der Eiserne Thron wird am<br />

Ende irgendwie zerstört. Am besten eingeschmolzen<br />

und dann verteilt als Ringe.<br />

Dasist auch ein bisschen eine feige Antwort ...<br />

Was wäre denn einige mutige Antwort?<br />

WasglaubeSie denn?<br />

KeineAhnung, ichbin auch zu feige, mich zu<br />

entscheiden.<br />

Also, ich kann mir gut vorstellen, dass<br />

Daenerys den Eisernen Thron erst besteigt<br />

und ihn dann abschafft. Das finde ich auch<br />

gar nicht so eine feige Antwort, denn vielleicht<br />

wirddann eine Form vonDemokratie,<br />

eine Republik zum Beispiel, ausgerufen ...<br />

Wie würden Sie das dann in Ihre Vorlesung<br />

integrieren?<br />

Das wäre eine spannende Herausforderung.<br />

Aber womöglich wird Cersei am Ende<br />

auch einfach Alleinherrscherin.<br />

Daniel Böldt<br />

hat durch „Game of Thrones“ gelernt,<br />

was BingeWatching ist.<br />

GERADE EBEN<br />

Paulus Ponizak sieht die Stadt<br />

Paulus Ponizak ist Fotograf der<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>.Mit seiner Street<br />

Photographywar er in diesem Jahr<br />

schon zumzweiten Mal auf der Art<br />

Basel Miami. An dieser Stelle<br />

präsentierterregelmäßig seinen<br />

ganz persönlichen Blick aufBerliin.<br />

„Ton-Rohre“, Hamburger Bahnhof.

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