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13./14. APRIL 2019 9<br />
Jean Ziegler ist Soziologe, Politiker und<br />
Autor. Erwar UN-Sonderberichterstatter<br />
für das Recht auf Nahrung. Er gehört<br />
dem Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats<br />
der Vereinten Nationen an.<br />
Ziegler ist einer der auflagenstärksten Kritiker<br />
des Kapitalismus. Anlässlich der Vorstellung<br />
seines neuesten Buches –„Was ist so<br />
schlimm am Kapitalismus –Antworten auf<br />
die Fragen meiner Enkelin“ (C. Bertelsmann,<br />
127 Seiten, 15 Euro) –traf ich ihn in einem<br />
Hamburger Hotel. Ich hatte ihm „Dialog mit<br />
meinem Urenkel“ vonJürgen Kuczynski mitgebracht.<br />
Er kannte das Buch nicht, lachte<br />
umso mehr über das Geschenk. Am 19. April<br />
wirdJean Ziegler 85 Jahrealt.<br />
Ihr erstes Buch –„Die Soziologie des neuen<br />
Afrika“ –erschien 1964. Seitdem kämpfen Sie<br />
gegen den Status quo. Ist nicht alles noch<br />
schlechter geworden?<br />
Daskann man so nicht sagen. DieKolonialherren<br />
mussten abziehen. Stattdessen<br />
wurde ein neokoloniales Ausbeutungssystem<br />
errichtet. In Afrika leben heute eine Milliarde<br />
Menschen in 54 Staaten. 37 davon sind<br />
reine Agrarstaaten. Vergangenes Jahr importierte<br />
Afrika für 24 Milliarden Dollar Nahrungsmittel.<br />
Nach UN-Ermittlungen sind<br />
35,2 Prozent der afrikanischen Bevölkerung<br />
schwer unterernährt.<br />
Woranliegt das?<br />
Die Weltkonzerndiktatur, die Oligarchien<br />
des internationalen Finanzkapitals plündern<br />
überall die Rohstoffe und die Nahrungsmittel.<br />
52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts<br />
werden von500 Konzernen erwirtschaftet. So<br />
etwas gab es noch nie. 2017 besaßen die 85<br />
reichsten Milliardäre der Welt so viel wie die<br />
ärmere Hälfte der Menschheit. Alle fünf Sekunden<br />
verhungert ein Kind unter zehn Jahren.<br />
Dabei könnte die Landwirtschaft, so wie<br />
sie heute ist, problemlos 12 Milliarden Menschen<br />
ernähren. EinKind, das heute an Hunger<br />
stirbt, wird ermordet. Wir leben in einer<br />
kannibalischenWeltordnung.<br />
Dassagen Sieseit fünfzig Jahren.<br />
Das zeugt nicht von großer Effizienz,<br />
könnte man sagen. Aber wir könnten uns<br />
doch nicht mehr im Spiegel ansehen, wenn<br />
wir kampflos aufgeben würden. Entweder ich<br />
helfe denen, denen Leib und Leben genommen<br />
wird, dann hat mein Leben einen Sinn.<br />
Tueich das nicht, ist mein Leben sinnlos.<br />
Aber ändern Sie wirklich etwas an der Einrichtung<br />
der Welt?<br />
Es gibt Hoffnung. Heute wird viel stärker<br />
Gerechtigkeit eingefordertals früher.Als Thomas<br />
Malthus um 1800 erklärte, Kriege und<br />
Hungersnöte seien nötig, um die Überbevölkerung<br />
abzuschöpfen, da folgten ihm die<br />
meisten Ökonomen. Heute wissen wir:Das ist<br />
Blödsinn. Die landwirtschaftlichen Erträge<br />
konnten so immens gesteigert werden. Die<br />
ungeheure Ankurbelung der Produktivität ist<br />
das andereGesicht des Kapitalismus.<br />
Waswärezutun?<br />
Es müsste das Recht auf Nahrung geben.<br />
DerZugang zu ihr dürfte nicht abhängig sein<br />
von der Kaufkraft. Schon müsste niemand<br />
mehr hungern.<br />
Ihr Buch „Was ist so schlimm am Kapitalismus?“<br />
beschäftigt sich ausführlich mit der aktuellen<br />
Situation, schildert die historische<br />
Entwicklung, die uns dahin geführt hat.<br />
Ganz, ganz am Ende fragt IhreEnkelin Zohra:<br />
„Und jetzt, was wirdjetzt passieren?“<br />
Da antworte ich erst einmal: Den unablässigen<br />
Krieg der Reichen gegen die Armen<br />
finde ich unerträglich. Sieerinnernsich, was<br />
einer der reichsten Männer der Welt, was<br />
Warren Buffett 2006 in einem Interview mit<br />
der New York Times erklärte: „Es herrscht<br />
Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine<br />
Jean Ziegler,Anfang April in Wien<br />
Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg<br />
führt, und wir gewinnen.“<br />
Woher kommt IhreHoffnung?<br />
Die Revolution ist nicht einfach eine Forderung,<br />
die wir herantragen an die Welt. Sie<br />
steckt in der Welt. Sie ist ihr, wie Sartre sagt,<br />
inkarniert. Wie und wann sie sich Bahn<br />
bricht, weiß man nicht. Aber sie kommt. Es<br />
bedarfnur einer Anklage gegen einen mächtigen<br />
Halunken aus der Filmbranche in Hollywood<br />
und schon sind Tausende von<br />
Frauen, die irgendwann Opfer sexueller Angriffe<br />
wurden, auf den Barrikaden.<br />
Eine kannibalische<br />
Weltordnung<br />
Jean Ziegler bekämpft seit mehr als fünfzig Jahren die bestehenden<br />
Verhältnisse. Er weiß, sie führen uns alle in den Untergang.<br />
Er wird die Hoffnung niemals aufgeben. Das ist der Sinn seines Lebens<br />
Interview: Arno Widmann<br />
In Ihrem Buch erzählen Sie ...<br />
Ich weiß schon, was Sie meinen. Stellen<br />
Sie sich vor, schreibe ich dort, ein Journalist<br />
hätte am 14. Juli 1789 einen von denen gefragt,<br />
die die Bastille stürmten: „Mitbürger,<br />
sag mir, wie geht das jetzt weiter?“ Niemand<br />
hätte ihm voraussagen können, was dann<br />
geschah. Die inkarnierte Revolution drückt<br />
sich aus.Auch ohne Begriffe.Wann wirdeine<br />
Idee zu einer sozialen Kraft? Das weiß man<br />
nicht. Aber man weiß: Es kommt immer wieder<br />
vor. Die Menschwerdung ist im Gange.<br />
Jean Jaurès, der französische Sozialistenführer,<br />
der am 31. Juli 1914 erschossen wude,erklärte:<br />
„Die Straße ist voll mit Leichen, aber<br />
sie führtzur Gerechtigkeit.“<br />
Nachdem Jaurès das gesagt hatte, kamen die<br />
Millionen Toten des Ersten Weltkrieges noch<br />
hinzu.<br />
Ja, aber die Straße der Menschheitsentwicklung<br />
führt eben doch zur Gerechtigkeit.<br />
Die Sklaverei wurde überwunden, der Kolonialismus,die<br />
Diskriminierung der Frau, das<br />
alles wurde überwunden oder ist doch dabei,<br />
überwunden zu werden. Ich sage es Ihnen<br />
noch einmal: Die Menschwerdung ist im<br />
Gang. Die Geschichte hat einen Sinn. Auch<br />
Ihrpersönliches Leben hat einen Sinn. Sonst<br />
könnten Siesich ja aufhängen.<br />
Aber Herr Ziegler ...<br />
Das ist das eine Mysterium. Das andere,<br />
das analytisch ebenfalls nicht voraussehbar<br />
ist, lautet: Wasgeschieht mit den Trümmern<br />
des kapitalistischen Systems? Die werden<br />
nicht nur da draußen sein. Siewerden auch<br />
in uns stecken. Mankann den Kapitalismus<br />
nicht reformieren, nicht humanisieren,<br />
man muss ihn abschaffen. Solange das Profitmaximierungssystem<br />
alles beherrscht,<br />
DPA/APA/HERBERT NEUBAUER<br />
gibt es keinen Ausweg. Unter ihm gibt es<br />
kein Gemeinwohl. Seine Herrschaft ist der<br />
Wegzur Zerstörung des Planeten. Da gibt es<br />
nichts zu reformieren. Es gibt keine humane<br />
Sklaverei.<br />
Waskommt nach den Ruinen?<br />
Das weiß niemand. Das kann jetzt niemand<br />
wissen. Das hängt von den Konstellationen<br />
ab, die es ermöglichen werden, aus<br />
dem kapitalistischen System eine Ruine zu<br />
machen.<br />
Aber eilt es heute nicht mehr als früher?<br />
Ganz sicher.Der Kapitalismus beherrscht<br />
den Globus und verändertdie Lebensbedingungen<br />
vonMensch, Tier und Pflanzesogravierend<br />
und so schnell, dass uns wenig Zeit<br />
bleibt, das Steuer noch herumzureißen. Die<br />
Konzentration der Vermögen nimmt stündlich<br />
zu. Also die Ungerechtigkeit. Daran gibt<br />
es nichts zu reformieren. Siemüssen hinausspringen<br />
aus diesem rasenden Zug inden<br />
Tod. Aber nicht Sie und ich, sondern die<br />
Menschheit muss dem Wahn ein Ende machen.<br />
InWahrheit will doch niemand in einer<br />
Gesellschaft leben, die sich damit abgefunden<br />
hat, eine Milliarde Menschen als Abfall<br />
zu betrachten. Im letzten Jahrzehnt sind die<br />
Meere umdrei Zentimeter gestiegen. Wenn<br />
es uns nicht gelingt, die Klimaerwärmung zu<br />
stoppen, ist Schluss mit Shanghai und New<br />
York und mit Neapel und auch mit Hamburg<br />
und dem Hotel, in dem wir gerade so nett sitzen.<br />
Sieleben am Montblanc.<br />
Auf einer eiszeitlichen Moräne. Vom Anstieg<br />
des Meeresspiegels droht mir keine Gefahr.<br />
Bei Berlin, lieber Herr Widmann, sieht<br />
das schon anders aus. Ziehen Sie umnach<br />
München! Aber bedenken Sie: DieWeltoberfläche<br />
liegt bei 510 Millionen Quadratkilometern.<br />
Davon sind 360 Millionen Wasser. 149<br />
Millionen sind Erde.Elf Millionen Quadratkilometer<br />
sind landwirtschaftliche Nutzflächen.<br />
Davonsind jetzt schon 40 Prozent Trockenzonen.<br />
Wenn die Klimaerwärmung weitergeht,<br />
werden immer mehr Nutzflächen<br />
verschwinden. An manchen Stellen rückt die<br />
Saharaschon heute jährlich um fünf Kilometer<br />
nach Süden vor. DieKinder wissen das.Sie<br />
gehen auf die Straße und sagen:„Wir sind hier,<br />
wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“<br />
Da soll ich keine Hoffnung haben! Ichbin für<br />
Greta!<br />
UndIhreEnkel?<br />
Diesind völlig kompromisslos.Die sagen:<br />
Wir lassen uns doch unseren Planeten nicht<br />
klauen. Ich fragte einen: Wassagt der Lehrer<br />
dazu, wenn du Freitag nicht in die Schule<br />
kommst? Dasist mir egal, antwortete er.Mir<br />
gefällt das.Wir sind am Anfang einer revolutionären<br />
Bewegung.<br />
Waswirdaus ihr?<br />
Dasweiß kein Mensch.<br />
Aber Siewissen, dass Sieauferstehen werden?<br />
Ganz sicher.Wir alle haben ein Doppelleben.<br />
Da ist unser Körper.Erlebt vonder Zellerneuerung.<br />
Wenn sie aufhört, ist Schluss.<br />
Dann fehlt dem Bewusstsein sein physiologisches<br />
Substrat. DerKörper verfällt. DasBewusstsein<br />
dagegen ist kumulativ. Ich habe<br />
heute viel mehr Bewusstseinsinhalte als vor<br />
80 Jahren. Für das Bewusstsein gibt es keinen<br />
natürlichen Tod. Es ist ewig. Niemand weiß,<br />
was nach dem Todsein wird. Es ist aber sicher,<br />
dass das Bewusstsein weiterleben und<br />
neue Erfahrungen aufnehmen wird. In irgendeiner<br />
Form. Mich wird esnoch geben.<br />
Unsalle wirdesnoch geben.<br />
Istdas gut?<br />
Aber sicher.<br />
Hitler und Stalin leben also auch noch.<br />
Keine Ahnung, was mit ihnen geschieht.<br />
Aber die Unsterblichkeit des Bewusstseins<br />
scheint mir eine Evidenz zu sein. Wenn ich<br />
nichts wäreals das Produkt einer durchtanzten<br />
Nacht im Berner Oberland vor85Jahren,<br />
dann hätte alles ja keinen Sinn. Dann würde<br />
der Zufall regieren.<br />
Daswäreschlimm?<br />
Aber ja. Es wäre unerträglich. Eine sinnentleerte<br />
Weltgeschichte, ein sinnentleertes<br />
individuelles Leben sind nicht zu ertragen.<br />
Ichwürde mich aufhängen.<br />
Daswürden Sienicht.<br />
Ichhabe nicht den Mutdazu.<br />
Wo ist Gott?<br />
Galilei beantwortet diese Frage in Brechts<br />
Stück mit den Worten: in uns und sonst nirgends.<br />
Esgeht nicht um Behauptungen. Es<br />
geht um Evidenzen. Ichsehe schon: Siesind<br />
nicht überzeugt. Da hilft nur Poesie. Zum<br />
Beispiel der irische Nobelpreisträger Seamus<br />
Heaney,der schrieb,dass einmal im Leben es<br />
passieren kann, dass die Gerechtigkeit sich<br />
erhebt und so endlich Hoffnung und Geschichte<br />
einander finden werden.<br />
RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN<br />
VonHatschepsut bis<br />
Charlotte Hellekant<br />
13. April 1479 v. Chr.<br />
Hatschepsut: Nach dem Todvon Thutmosis<br />
II. aus der 18. Dynastie wirdsein dreijähriger<br />
Sohn Thutmosis III. am 4. Pachon des Ägyptischen<br />
Kalenders zum Pharao des Alten<br />
Ägypten gekrönt. Seine Stiefmutter und<br />
Tante Hatschepsut übernimmt für ihn die<br />
Regentschaft. 1457 stirbt sie. „Hatschepsuts<br />
Regierungszeit wird insgesamt als eine blühende<br />
Epoche beurteilt, die zu den Glanzzeiten<br />
der ägyptischen Geschichte gezählt wird.<br />
Hatschepsut wird von Ägyptologen für eine<br />
der wichtigsten Herrschergestalten des<br />
Neuen Reiches gehalten.“ (Wikipedia)<br />
Hatschepsut regierte etwavon<br />
1479 bis 1457 v.Chr. IMAGO/ARTOKOLORO<br />
13. April 1742<br />
Messiah: Georg Friedrich Händels Oratorium<br />
„Messiah“ wirdinDublin uraufgeführt.<br />
Eine der eindrücklichsten Aufnahmen<br />
stammt aus dem Jahre 1999 mit „Les Musiciens<br />
du Louvre“ unter der Leitung vonMarc<br />
Minkowski mit Magdalena Kožená und der<br />
nicht genug zu rühmenden Charlotte Hellekant.<br />
Besorgen Sie sich unbedingt die DVD,<br />
auf der Sieauch die Inszenierung des in Paris<br />
lebenden amerikanischen Fotografen und<br />
FilmregisseursWilliam Klein, geboren am 19.<br />
April 1928 in NewYork, bewundern können.<br />
Es ist die mit weitem Abstand packendste<br />
Darstellung, die ich je gesehen habe.<br />
13. April 1964<br />
Oscar: Sidney Poitier erhält bei der Oscarverleihung<br />
1964 als erster Schwarzer den Oscar<br />
als bester Hauptdarsteller, für seine Rolle in<br />
der Komödie „Lilien auf dem Felde“. In Berlin<br />
gewinnt er damit einen Silbernen Bären.<br />
Schauspieler SidneyPoitier mit<br />
seiner Trophäe<br />
DPA<br />
1927 in Miami geboren, wirder1967 mit drei<br />
Filmen zur Rassendiskrimierung der erfolgreichste<br />
Schauspieler des Jahres: „Junge Dornen“,<br />
„Rat mal, wer zum Essen kommt“, „In<br />
der Hitzeder Nacht“. 1997 bis 2007 ist Poitier<br />
Botschafter der Bahamas in Japan. 2002 erhält<br />
er den Ehren-Oscar, 2009 von Barack<br />
Obama die Freiheitsmedaille.<br />
Und am 13. April 1969<br />
in der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />
Kranzdelegationen: Mit Kranzniederlegungen<br />
an der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald<br />
wurde gestern des 24. Jahrestages<br />
der Selbstbefreiung des Konzentrationslagers<br />
und der antifaschistischen Widerstandskämpfer<br />
gedacht. Kranzdelegationen<br />
schritten in einem langen Zugzum Glockenturm,<br />
an der SpitzeAbordnungen der NationalenVolksarmee,die<br />
u. a. KränzedesVorsitzenden<br />
des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht,<br />
des Zentralkomitees der SED und des<br />
Ministerrates trugen.