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# wohlbefinden
„Bräuche werden
erfunden, wenn
man sie braucht.“
Helga Maria Wolf, 1951 in Wien geboren, studierte Europäische
Ethnologie und Kunstgeschichte und ist Autorin
zahlreicher Publikationen. Mit ihrem Buch „Verschwundene
Bräuche“ hat sie ein umfassendes Lexikon der untergehenden
Rituale verfasst. Im Gespräch mit CHECK
erklärt sie die Notwendigkeit von Ritualen und Bräuchen
in der heutigen Zeit.
Helga Maria Wolf
Autorin
Wie unterscheiden sich städtische von
ländlichen Bräuchen?
Die Landwirtschaft war extrem von der Natur abhängig.
Die Bräuche im Bauernjahr haben daher viel mit
der Jahreszeit und der jeweils nötigen Arbeit bzw. deren
Abschluss zu tun. Die Landbevölkerung erhoffte sich
von ihren Ritualen Schutz und Segen. Die bestehende
Gemeinschaft sollte nach bewährten Regeln funktionieren,
dazu gehörten auch soziale Kontrolle, Rüge- und
Heischebräuche. Heiligenverehrung, Patrone und Bauernfeiertage
waren wichtig. Wenn auch noch heute der
überwiegende Teil der staatlichen Feiertage auf kirchliche
zurückgeht, spielt doch in der Stadt der religiöse
Hintergrund eine geringere Rolle. Dafür entstanden
hier andere Bräuche, die speziell im adeligen oder bürgerlichen
Milieu verankert waren, z.B. die Zunftbräuche
der Handwerker.
Wie wichtig sind Bräuche und Rituale für das
menschliche Zusammenleben?
Traditionelle Rituale konnten auch in schwierigen Situationen
Lebenshilfe leisten – sonst würden jetzt Psychologen
und Therapeuten nicht so sehr nach ihrer Wieder-
entdeckung rufen. Wichtige Lebensereignisse wie Geburt,
Heirat oder Tod werden von der Kirche mit Sakramenten
begleitet. Man sollte aber auch im „weltlichen“ Leben
vielleicht wieder mehr daran denken. Bräuche haben zudem
eine soziale Dimension, denn Feste verbinden und bieten den
Individuen Höhepunkte des Lebens und des Jahreslaufes.
Buchtipp
„Verschwundene Bräuche“
von Helga Maria Wolf,
Brandstätter Verlag
Warum geraten manche Bräuche in
Vergessenheit?
Bräuche fallen nicht vom Himmel, sie kommen auch
nicht aus der „Volksseele“. Sie werden erfunden, wenn
man sie braucht. Bräuche wandern, entwickeln sich dynamisch
weiter, verschwinden, werden wieder belebt.
Keiner hat sich von mystischer Vorzeit bis in die Gegenwart
erhalten. Brauch-Erfinder – Einzelpersonen oder
Gruppen – kamen aus allen sozialen Schichten. Herrscher
und Kirche hatten gute Gründe, selbst Feste zu begehen
oder für andere festzulegen. Kreative Köpfe, wie
der Dichter Matthias Claudius, führten für ihre Familien
eigene Feiertage ein – als Journalist ermunterte er seine
Zeitgenossen dazu.
Die Gründe für die Entstehung von Traditionen sind
vielfältig. Meist kommen einige zusammen, wie wirtschaftliche
Notwendigkeiten, religiöse Gebote, ungeschriebene
Gesetze oder psychologische Ursachen.
Bräuche werden veränderten Gegebenheiten angepasst,
einzelne Elemente verschwinden, verbinden sich mit
anderen, es entsteht etwas Neues.
Bräuche sind flexibel und hybrid. Bräuche sind nicht
„ewig“ und vieles geht verloren, wenn die Grundlage
wegfällt. Und um manches, wie z.B. Rügebräuche, ist
es auch gar nicht schade.
pressefotoLACKINGER, Brandstätter Verlag
92 CHECK 2/2019