Griaß di´Winter: Zeit zum Träumen
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ALLGÄU HEIMATLICH | Brauchtum zur Weihnachtszeit<br />
den nächsten Baum zu loben. Es ist oft ein feucht-fröhliches<br />
Unterfangen – oder eben ein wertvolles Brauchtum. Spontan besucht<br />
man Nachbarn, Freunde und Verwandte und pflegt somit<br />
soziale Kontakte.<br />
Diesen Brauch gibt es vermutlich seit der zweiten Hälfte des<br />
19. Jahrhunderts, seitdem erst ist der Nadelbaum als Weihnachtsdekoration<br />
populär. Daten aus einer Erhebung der Universität<br />
Augsburg zeigen, dass diese Tradition ihren Ursprung vor allem<br />
in Schwaben und im Allgäu hat. „Wir beobachten aber, dass sich<br />
das Christbaumloben als Brauch auf andere Regionen ausbreitet,<br />
wiederbelebt und häufiger auch öffentlich veranstaltet wird“,<br />
erklärt Michael Ritter, Experte beim Bayerischen Landesverein<br />
für Heimatpflege in München. „Bräuche sind eben nicht statisch,<br />
sondern verändern sich mit den Jahren und Jahrzehnten und passen<br />
sich an die jeweilige <strong>Zeit</strong> an.“<br />
Stamm-Schmücker<br />
Zurück nach Memmingen, es ist Freitagnachmittag. Wochen<br />
vorher seien Paten für einen der insgesamt 20 Bäume gesucht<br />
worden, so Bretzel. Mitmachen dürfe jeder, einige Leute seien<br />
sogar schon Stamm-Schmücker. Er selbst besorgt die Bäume und<br />
stellt sie in der Rathaus-Halle auf. Dort trudeln jetzt nach und<br />
nach die Paten ein: eine bunt gemischte Truppe, Jüngere und Ältere,<br />
ganze Familien oder einzelne Personen. Ist der Baum ausgesucht,<br />
machen sich alle mit sichtlicher Freude ans Werk.<br />
Das vierte Mal in Folge ist Gisela Brucker dabei. „Herr Bretzel<br />
ist mein Monteur. Er hat mich gefragt, ob ich mitmachen will“,<br />
erzählt die 72-Jährige aus Buxheim. „Wie schön, dass dieser<br />
Brauch, den ich noch aus meiner Kindheit kenne, auflebt. Und<br />
interessant, was die Leute für Ideen haben“, meint sie mit Blick<br />
auf ihre Nachbarn rundum. Sie selbst hat sechs Wochen vorher<br />
begonnen, Papier-Engel zu basteln. Gerade kämpft sie mit ihrer<br />
Lichterkette, die sich verheddert hat. „Eigentlich hatte ich sie<br />
doch so ordentlich eingepackt“, grübelt sie.<br />
Elegantes in Gold<br />
Petra Steck-Weber hat andere Probleme: „Das ist ja schlimmer als<br />
beim Fenster putzen, ich bin doch nicht schwindelfrei“, jammert<br />
die Memmingerin und lacht sogleich über sich selbst. Sie steht<br />
auf ihrer Leiter, um eine Schleife an die Baumspitze zu binden.<br />
Ihr Baum wirkt elegant in Gold, den Schmuck hat die 61-Jährige<br />
selbst gemacht: Sterne aus Bienenwaben, Anhänger aus Anis,<br />
Zimtstangen und Orangenscheiben. Allerdings muss sie feststellen:<br />
„Ich bin nicht so elektrifiziert wie meine Kollegen hier, bei<br />
mir kommen Bienenwachs-Kerzen auf den Baum.“<br />
20 Bäume, 20 verschiedene Deko-Ideen. Da gibt es den<br />
Schmuck von Familie Wiblishauser vom Radl-Stadl: aus Moosgummi<br />
herausgeritzte Räder, Rückstrahler und aus Kettenteilen<br />
geformte Anhänger in Stern- und Herz-Form. Da gibt es den<br />
Schmuck von Else Frasch, die mit ihrer Tochter in stundenlanger<br />
Handarbeit goldene Sterne und Engel geklöppelt und gehäkelt<br />
hat. Da gibt es die ganz eigene Auffassung von Berta Huber und<br />
Rupert Reisinger: „Wir machen jedes Jahr einen Baum mit Botschaft,<br />
unser aktuelles Thema ist das Bienensterben.“ So hängen<br />
ausgedruckte Papier-Bienen und passende Texte am Baum.<br />
Der Exot: ein Baum aus Treibholz-Ästen mit bunten Kugeln.<br />
Spontan als Pate eingesprungen ist Ruth Pfalzer: „Ich liebe übervoll<br />
und rot und traditionell“, gesteht sie. Sogar zwei Bäume hat<br />
Helga Dietrich dekoriert, weil noch Paten fehlten. Für die routinierte<br />
Schmückerin aus Memmingen überhaupt kein Problem:<br />
Sie hat Schmuck für fast 30 Bäume zu Hause, Kugeln in allen<br />
Farben, und sie verrät: „Mein Mann schimpft, wenn ich wieder<br />
welche kaufe. Aber man braucht immer mal was Neues.“<br />
Als Beobachter des geschäftigen Treibens fragt man sich: Ist<br />
das nicht nervig? Heute den Baum für die Aktion schmücken,<br />
am Sonntag abhängen, den Baum nach Hause verfrachten, um<br />
ihn dort erneut (und möglicherweise in anderem Style) für Weihnachten<br />
zu dekorieren? Barbara Menig schüttelt den Kopf: „Kein<br />
Problem. Wenn alles gut in Schachteln sortiert ist, gibt es<br />
Advent im Allgäu<br />
BÄRBELE- UND KLAUSENTREIBEN In der <strong>Zeit</strong> rund um den<br />
Nikolaustag sind wilde Gesellen unterwegs. Erst treiben die<br />
Bärbele mit ihren aufwändig verzierten Masken ihr Unwesen.<br />
Danach sind die furchteinflößenden Klausen im Oberallgäu<br />
unterwegs. Wer sie neckt, bekommt Schläge mit der Rute. Im<br />
Gegensatz dazu sind die Klosen in Wangen von ruhiger Natur. In<br />
schlichtem Gewand und im Schein ihrer Laternen tragen sie am<br />
5. Dezember alte, deutsche Nikolaus-Lieder vor.<br />
„ENGELEFLIEGEN“ Das hat in Isny große Tradition. Wenn sich<br />
der Vorhang am Abthaus öffnet, schwebt ein goldglitzerndes Engele<br />
auf die Isnyer Schlossweihnacht herab. Seit 2018 ist auch<br />
hier das Christbaumloben öffentlich: Man trifft sich am schön<br />
geschmückten Weihnachtsbaum. Dort in einer Nische darf jeder,<br />
der möchte, singen oder ein Gedicht aufsagen. Zur Belohnung<br />
gibt es ein Schnäpsle oder Schokolade.<br />
JESUKIND Das älteste Jesukind der Welt aus dem 14. Jahrhundert<br />
lässt sich im Schwäbischen Krippenmuseum in Mindelheim<br />
bewundern.<br />
KRIPPEN Ebenfalls in Mindelheim, im Chorraum der benachbarten<br />
Jesuitenkirche, wird jedes Jahr die älteste und größte Krippe<br />
Schwabens aufgestellt. Rund 80 Figuren sind kindesgroß und<br />
bekleidet. Eindrucksvoll ist auch die Krippe von Josef Madlener<br />
im Innenhof des Antonierhauses in Memmingen.<br />
124 | <strong>Griaß</strong> di’ Allgäu