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Griaß di´Winter: Zeit zum Träumen

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Kolumne<br />

Leben genießen<br />

in vollen Zügen<br />

Ich fahre ja öfter mal Zug. Zu Lesungen. Genieße<br />

quasi das Leben in vollen Zügen. So wie<br />

kürzlich auf dem Weg nach Mannheim. Von<br />

Kempten über Ulm. Und wieder zurück. Eigentlich<br />

im ICE, der aber kurz hinter Mannheim<br />

schon langsamer als ein Bummelzug fährt. Allüberall<br />

dräuen Koffer in den Gängen, die Über-Kopf-<br />

Ablagen sind längst voll. Der Zugmitarbeiter<br />

im gewohnten sächsischen<br />

Zungenschlag hat längst resigniert.<br />

Mir gegenüber sitzt, dem Outfit<br />

nach, eine stille Businessfrau, daneben<br />

ein Ehepaar. Er malträtiert ein ganz superschlankes<br />

Smartphone, sie liest eine<br />

ganz schlaue <strong>Zeit</strong>ung auf ihrem ebenfalls<br />

schlanken Tablet. Über dem Gang<br />

haben sich vier Männer um den Tisch<br />

geschart, alle das Tablet vor sich, alle<br />

tippen wahnsinnig schnell, viel schneller,<br />

als dieser Zug je vor hat, zu fahren.<br />

Plötzlich beginnt der Mann im allerfeinsten<br />

Zwirn zu sprechen: „Ich kann<br />

da nur den Hard Cut Off favorisieren.<br />

I mean, das ist ein reines Investment<br />

Mandat.“<br />

Von den anderen dreien hagelt es Antworten,<br />

aus denen ich heraushöre: Regelbasiert.<br />

Portfolio. Inputdaten. Value<br />

Add. Und der Index wäre doch nur deshalb entwickelt<br />

worden, um ein Rating zu kreieren. Der Feine-<br />

Zwirn-Mann kontert: „Aber wie scort ihr? I guess,<br />

wir bleiben griffig gerade im Local Bereich. Die Frage<br />

ist, wieviel Backtesting ihr machen könnt.“<br />

UNSERE KOLUMNISTIN<br />

NICOLA FÖRG<br />

Die Bestseller-Autorin und<br />

Journalistin ist aufgewachsen<br />

in Oberstaufen und Kempten.<br />

Irgendwann kam sie auf die<br />

Idee, einen Allgäu-Krimi zu<br />

schreiben. Aktuelles Werk:<br />

Das Winterwunder von Dublin<br />

(Piper).<br />

„We need backtesting on performance level“, sagt<br />

der, der optisch einen indischen Einschlag hat. Der<br />

„Zwirn“ stöhnt und will erwähnt wissen, dass das<br />

Remote-Arbeiten echt hard und die Connectivity in<br />

den Niederlanden echt besser gewesen wäre…<br />

Und plötzlich hacken sie alle wieder in ihre Tablets.<br />

Ich suche ganz vorsichtig den Blick der Frau gegenüber.<br />

Sie lächelt leise. In Stuttgart<br />

steigen die Herren aus. Ihren Platz<br />

nimmt wieder eine Vierer-Gruppe<br />

ein. Totale Exoten! Zwei Ehepaare<br />

um die Sechzig, in Wanderhosen,<br />

einer in der Krachledernen. Statt<br />

Tablets kommen Rucksäcke auf den<br />

Tisch. Denen sieht man Bier, Hartwurst,<br />

Semmel, Käse an. Der Blick<br />

des einen Mannes streift mich und<br />

die Frau gegenüber. „Wollts au eabbas,<br />

Mädla?“, fragt er. Natürlich<br />

danke fürs „Mädla“, das schmeichelt!<br />

Und mehr noch: Danke fürs Angebot!<br />

Vor allem dafür, dass ich euch<br />

verstehen kann.<br />

Die Gruppe aus Kempten war in<br />

Stuttgart auf Verwandtenbesuch.<br />

„Ohne a gscheite Brotzeit reisn mir<br />

nia“, stellt die Frau klar. „Langts zu!“<br />

Tun wir, essen, plaudern, lachen – und<br />

stören augenscheinlich all die anderen beim smarten<br />

Arbeiten.<br />

Und endlich hat die Zugfahrt eben doch noch einen<br />

Value Add bekommen – und die analoge Conectivity<br />

zwischen uns sechs Menschen ist auch super.<br />

© AdobeStock/kuco<br />

<strong>Griaß</strong> di’ Allgäu | 145

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