SPIEGEL START 01/2021
Das Magazin für Uni und Arbeit SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre. Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund. Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
Das Magazin für Uni und Arbeit
SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre.
Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund.
Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
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ja durchaus die Marktmacht zu sagen: Ich will mehr verdienen«,
sagt Leusbrock. »Wenn ich das hier nicht kriege, gehe ich wo -
anders hin.«
So weit die Theorie. Dass die Realität bislang oft anders aussieht,
liegt auch daran, dass es »die Pflege« in Deutschland nicht
gibt. Die Branche ist zersplittert. Bei den Arbeitgeber:innen, für
die im komplizierten Entlohnungssystem der Pflegeversicherung
oft unterschiedliche Bedingungen gelten. Und auch bei den Arbeitnehmer:innen,
die sich bislang kaum für bessere Arbeits -
bedingungen organisieren.
Als gelernter Krankenpfleger weiß Philipp Leusbrock, wie
es ist, sich um einen Menschen zu kümmern – ihn etwa von Kopf
bis Fuß zu waschen. Als Geschäftsführer weiß er aber auch, ab
wann das unrentabel wird. »Eine Pflegeminute kostet uns etwa
einen Euro«, rechnet er vor. »Bei einer Ganzwaschung müssten
wir eigentlich in 21 Minuten wieder raus sein, um auf plus/minus
null zu kommen.« Grundlage dieser Kalkulation ist die Pflegeversicherung,
in der Leistungen nach Punktwerten abgerechnet werden.
Für eine Ganzwaschung bekommt Leusbrock Pflege derzeit
426 Punkte, was 21,08 Euro entspricht. Für das Zubereiten von
warmen Speisen gibt es 150 Punkte beziehungsweise 7,42 Euro.
Für einen Toilettengang und den Umgang mit anderen Ausscheidungen
dürfen 104 Punkte und 5,15 Euro berechnet werden.
Daneben finanziert auch
die Krankenversicherung Leistungen.
Zur Leistungsgruppe 1
zählen unter anderem Blutdruckmessen,
Injektionen oder
das Ausziehen von Kompres -
sionsstrümpfen. Maximal 11,26
Euro bekommt Leusbrock Pflege
dafür – un abhängig davon,
wie viele der Tätigkeiten eine
Pflegerin ausgeführt hat. So etwas
gebe es in keiner anderen
Branche, kritisiert Leusbrock.
»Du gehst ja auch nicht in die
Autowerkstatt und sagst: Ich
zahl nur den Reifenwechsel, dafür
machst du den Ölwechsel
noch mit.«
Durch das System der Pauschalen
lohnt sich vor allem die
Pflege von Menschen, bei denen
viele unterschiedliche Leistungen
abgerechnet werden können.
»Wir müssen ganz viele
Kunden querfinanzieren«, sagt
Leusbrock. Seine Firma hat sich
breit aufgestellt, betreibt auch
ein betreutes Wohnen und zwei
Wohngemeinschaften für Pflegebedürftige.
So kommt das Unternehmen
laut Leusbrock auf
eine Vorsteuerrendite von rund
sechs Prozent.
Doch nicht jeder Pflegedienstbetreibende
bringt auch
Leidenschaft für Zahlen mit.
Viele kommen aus der Praxis –
so wie Leusbrocks Mutter, die
ALLTAG DER PFLEGE Die Fotografin Patricia Kühfuss
doku mentiert in ihrer Bilderserie »Nicht müde werden«,
aus der wir hier eine Auswahl zeigen, die vielfältigen
Aufgaben des Pflegepersonals in deutschen Kranken -
häusern, aber auch die Erschöpfung, den Frust und die
kleinen Gesten der Menschlichkeit.
POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
den kaufmännischen Teil früh
an ihren Mann abgab. Mittelständler:innen
seien sehr wichtig
für den Pflegemarkt, aber
»betriebswirtschaftlich sicher
nicht alle brillant aufgestellt«,
sagt der Bremer Gesundheitsökonom
Heinz Rothgang. »Die Innovationsfreude ist nicht sehr
ausgeprägt.«
Es liegt jedoch nicht nur an fehlendem Unternehmergeist,
wenn bei manchen Anbietern mehr Geld ankommt. Viele Träger
verhandeln mit den Pflegekassen individuell darüber, mit wie viel
Euro die Punktwerte entgolten werden. Ein großer, alteingesessener
Träger wie die Caritas hat oft eine bessere Bezahlung aushandeln
können als kleinere Anbieter. So erhält der nächstgelegene
Caritas-Pflegedienst laut Daten des Fachportals Pflegelotse.de gut
fünf Euro mehr für eine Ganzwaschung als Leusbrock Pflege.
»Wenn die Bezahlung für alle Pflegekräfte gleich sein soll,
dann müssen Pflegeunternehmen auch gleich vergütet werden«,
sagt Philipp Leusbrock. Gesundheitsökonom Rothgang stimmt
ihm zu. »Ein Teil der Bundesländer unterscheidet bei ambulanten
Pflegeleistungen nach Trägerschaft«, sagt er. »Es ist natürlich ein
Unding, gleiche Tarife anzusetzen, dann aber für erbrachte Einzelleistungen
weiterhin unterschiedliche Sätze zu zahlen.«
»Der Sektor bietet stabile Einnahmen«
Wie groß die Gräben zwischen den Trägern sind, zeigte sich im
Februar. Da scheiterte der von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD)
unterstützte Versuch, einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag
für die Altenpflege auszuhandeln, am Einspruch der Caritas.
Die kirchlichen Träger zahlen
überdurchschnittlich, handeln
ihre Gehälter aber ohne
Gewerkschaften aus. Ihr Veto begründeten
sie mit der Sorge, dass
ein Tarifvertrag auch Grundlage
für die eigenen Verhandlungen
mit den Pflegekassen werden
könnte. Anders ausgedrückt: Die
Kirchen fürchteten um ihren
Wettbewerbsvorteil.
Es ist nicht die einzige
Konfliktlinie in der Branche. So
versucht der Arbeitgeberverband
Pflege (AGVP) derzeit
vor Gericht, die Gewerkschaft
Ver.di in der Altenpflege für
»tarif unfähig« zu erklären. Pressemitteilungen
des AGVP tragen
Titel wie »Frau Baerbock
hat keine Ahnung!!!« oder
»Der Westen diktiert, der Osten
zahlt!« Die Löhne stiegen ja
auch ohne Tarifbindung, argumentiert
Geschäftsführerin Isabell
Halletz. »Wir brauchen kein
Instrument, das so hart eingreift,
wenn sich der Markt aufgrund
der knappen Personalressourcen
permanent selbst überholt.«
Man unterstütze die Arbeit der
Pflegekommission, die Mindestlöhne
festlegt. »Alles darüber
hinaus sollte dem Wettbewerb
über lassen bleiben und die Vielfalt
der Unternehmen fördern.«
Der AGVP vertritt nach
eigenen Angaben die umsatz -
stärksten Unternehmen der deutschen
Pflegewirtschaft. Dazu
gehört auch Branchen primus
Korian aus Frankreich. Offiziell
gibt der Verband seine Mitglieder
mit Verweis auf den Datenschutz
jedoch nicht preis. Das
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 53