SPIEGEL START 01/2021
Das Magazin für Uni und Arbeit SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre. Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund. Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
Das Magazin für Uni und Arbeit
SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre.
Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund.
Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
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ALLTAG UND BEZIEHUNG
nicht mehr schwanger werden, jetzt brauchst du auch das Haus
nicht mehr zu verlassen‹, und ich lag für den Rest des Zyklus nur
auf dem Sofa und fühlte mich schlecht.«
Nach einer Kondompanne während ihres Eisprungs fand sich
Anna W. in der Notaufnahme wieder, um sich die »Pille danach«
verschreiben zu lassen, und beschloss, sofort wieder mit der Pille
anzufangen. Auch dazu entschied sie sich aus einem feministischen
Motiv heraus: »Ich möchte als Mensch in dieser
Welt frei agieren und nicht mehr so extrem von der Biologie
in mir bestimmt sein. Es ist sehr einschränkend, wenn
ich zwei Wochen im Monat depressiv bin. Ich will nicht
mehr, dass dieses Organ mir sagt, dass ich schwanger werden
muss, wenn ich das selbst gar nicht will.«
Last der alleinigen Verantwortung
Anna W. kann also sowohl die Argumente für als auch gegen die
Pille nachvollziehen. »Ich habe das Gefühl, die Argumente sind
ausgewogen«, sagt sie über Gespräche mit anderen Frauen. »Ich
finde beide Argumente gleichwertig, und ich finde, dass niemand
da über die Entscheidung einer anderen urteilen sollte.
Wichtig ist, dass jede die Entscheidung informiert treffen kann.«
Das ist mitunter gar nicht so leicht. Gynäkologin Daniela
Wunderlich hat pro Patientin gerade mal eine Viertelstunde Zeit
für Beratung und Vorsorge. In dieser Zeit versucht sie, unter -
schiedliche Faktoren zu berücksichtigen, um das beste Verhütungsmittel
für die Patientin zu finden: In welcher Lebensphase befindet
sie sich, wie ist sie finanziell aufgestellt, raucht
»Jeder Körper
reagiert unterschiedlich.
Es gibt
nicht das eine
beste Verhütungsmittel
für alle.«
sie, gibt es einen festen männlichen Partner, ein
Thromboserisiko in der Familie?
Manchmal muss sie zusätzlich noch Mythen
über die Pille ausbügeln, die meist aus Internetforen
stammen. »Die Informationen, die
über die jungen Frauen hereinbrechen, brauchen
eine Einordnung«, sagt Wunderlich.
Sie nimmt bei ihren jungen Patientinnen
einen regelrechten Hype um die Ablehnung
von Hormonpräparaten wahr. Zugleich würden
sie relativ sorglos mit Zyklus-Apps umgehen,
ohne sich über die Sicherheit ihrer Daten Gedanken
zu machen – und manchmal dabei ungewollt
schwanger werden. »Es ist schick zu sagen,
Hormone will ich nicht mehr«, sagt die Gynäkologin. »Der
Trend geht in Richtung vegane, gluten freie Ernährung und Menstruationscups,
um die Umwelt zu schonen. Da passen Hormone
nicht dazu.«
Auch die Professorin Silke Satjukow sieht einen Zusammenhang
zwischen dem Trend zur Selbstoptimierung und dem an -
tagonistisch geführten Verhütungsdiskurs. Satjukow ist Historikerin
an der Universität Halle und hat die Geschichte der Ver -
hütung untersucht. Die Generation, die heute um die dreißig ist,
nennt sie die »Generation Sicherheit«. Sie sind diejenigen, die
in die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung Anfang
der Neunzigerjahre hineingeboren wurden und deren Eltern
ihnen die Welt nicht mehr erklären konnten. Noch stärker treffe
dies auf Kinder zu, deren Eltern vor der Wende in der DDR gelebt
hätten. »Selbstoptimierung kann Sicherheit geben«, sagt Satjukow.
»Ich mache es richtig – du machst es falsch. Diese Generation ist
radikal in der Abwertung anderer, weil es ihnen Sicherheit gibt.«
Die Argumente für und gegen die Pille gibt es schon, seit sie
vor 60 Jahren in Westdeutschland auf den Markt kam, erklärt
Satjukow. Lange sei sie größtenteils als fortschrittlich wahrgenommen
worden, sie fiel zusammen mit der sexuellen
Revolution der 68er-Bewegung und bedeutete für Frauen
vor allem selbstbestimmte Sexualität und Mutterschaft. In
der Bundesrepublik sei sie auch ein Statement gegen das Esta -
blishment gewesen, so Satjukow: Junge, unverheiratete Frauen
hätten sich ihr Recht auf die Pille erst gegen große Widerstände
erkämpfen müssen. In der DDR, wo Frauen mit viel größerer
Jana Pfenning, Aktivistin
Selbstverständlichkeit berufstätig waren und Karriere machten,
sei das anders gewesen. Der Staat habe gehofft, mit der sogenannten
Wunschkindpille für Frauen die Planbarkeit und damit auch
die Geburtenrate zu erhöhen. In den Achtzigerjahren seien die
Argumente gegen die Pille stärker geworden, vor allem in der
aufkommenden Umweltbewegung. Heute fänden sie über Social
Media eine noch größere Reichweite als vorher.
Satjukow beobachtet, dass die Fronten in Freundes -
kreisen und sozialen Netzwerken zunehmend verhärten.
»Beide Seiten argumentieren mit Feminismus. Sie verkennen,
dass sie beide verlieren, wenn sie sich untereinander be -
kriegen. Wer gewinnt, sind diejenigen in den Machtpositionen.«
Damit meint sie: Gesetzgeber:innen, die Instanzen, die für Bildung
und Erziehung zuständig sind, die Minister:innen für
Familie, Soziales, Gesundheit und Arbeit auf Bundes- und Landesebene.
Sie sind es, die Satjukow in der Verantwortung sieht,
für Ver einbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen, Forschung
an Verhütungsmitteln für den Mann voranzutreiben,
kurz: »Die Bedingungen zu schaffen, dass wir Kinder
selbstbestimmt in die Welt setzen und aufziehen können.
Kinder bekommen und behalten ist ein gesellschaftliches
Problem.«
Auch Rita Maglio und Jana Pfenning wollen sich nicht mit
Grabenkämpfen für oder gegen die Pille aufhalten. Sie haben die
Petition »Verhütung für alle besser machen!« gestartet, mit der
sie sichere, nebenwirkungsarme Verhütungsmittel für alle Geschlechter
fordern. Seitdem sie die Petition Anfang
Januar 2020 veröffentlicht haben, haben
mehr als 110 000 Menschen unterzeichnet.
»Die Idee entstand Anfang 2020 bei einem
Barabend«, erzählt Pfenning. Die 25-Jährige
arbeitete damals für eine Abgeordnete im
Europäischen Parlament, Rita Maglio, 24,
machte dort ein Praktikum. Kolleg:innen verschiedenster
Parteien gingen an dem Abend
zusammen aus, das Gespräch kam auf das Thema
Verhütung, und alle, Männer wie Frauen,
zeigten sich mit dem Status quo unzufrieden.
»Wenn Anhängerinnen aller demokratischen
Parteien dafür sind, dass es bessere Verhütungsmittel
geben muss, warum passiert dann
nichts?«, fragt Pfenning. Maglios Erklärung: Der Altersdurchschnitt
im Bundestag sei um die fünfzig, in dem Alter sei die Familienplanung
in den meisten Fällen schon abgeschlossen. In ihrer
eigenen Altersgruppe sei das Thema hingegen sehr präsent.
Viele Männer zeigten in den Kommentaren unter den Instagram-Posts
ihrer Initiative »Better Birth Control« großes Interesse
an männlichen Verhütungsmitteln. Ihre Freundinnen tauschten
sich viel untereinander aus, oft spielten dabei Ängste vor dem
Schwangerwerden, vor Nebenwirkungen und die Last der alleinigen
Verantwortung eine große Rolle, erzählt Pfenning.
»Unser Ansatz ist: Jeder Körper reagiert unterschiedlich,
jede und jeder muss frei für sich entscheiden können. Verhütung
ist individuell. Es gibt nicht das eine beste Verhütungsmittel
für alle.«
Maglio und Pfenning konnten schon die Unterstützung verschiedener
Politiker:innen gewinnen, wie beispielsweise Kevin
Kühnert (SPD) oder Ricarda Lang (Grüne). Ihre Initiative fordert
neben gleichberechtigter Verhütung, besserer Aufklärung und Forschung
an neuen Verhütungsmitteln auch eine hundertprozentige
Kostenübernahme.
An jenem Tag im Kunsthandwerkladen beschließe ich,
mich nicht dafür zu rechtfertigen, dass ich die Pille nehme. Ich
finde, ich habe ein Recht darauf, zu entscheiden, wie ich verhüte,
und dafür nicht verurteilt zu werden. Auch und erst recht nicht
von anderen Frauen. Und zwar egal, ob ich gesundheitliche Gründe
vorzuweisen habe oder ob ich ganz einfach nicht schwanger
werden will.
64 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021