KOLUMNE: DIE KUNST DES GRÜNEN LIEBENSDas Fliegen der anderenSeitdem meine Freundin und ich wegen der Pandemie nicht mehrverreisen, sparen wir uns jede Menge Streit über vermeintliche Klimasünden.Was für eine Erleichterung!TEXT FABIAN THOMASILLUSTRATION MORITZ WIENERTFabian Thomas, 25, und Svenja Meese, 23, die in Wahrheit einenanderen Nachnamen trägt, sind seit vier Jahren ein Paar. Sie studiertKlimatologie an der ETH in Zürich, er Journalismus an derJournalistenschule in München. Svenja will retten, was vom Klimanoch zu retten ist, Fabian würde ihr gern dabei helfen, doch er willnicht auf so viel verzichten wie Svenja. Für SPIEGEL START schreibensie in »Die Kunst des grünen Liebens« im Wechsel darüber,wie sie es trotzdem schaffen, sich zu lieben.Wenn Svenja und ich den Sommerurlaub planen,dann beginnt der Stress im Januar. Unsere Vorstellungensind ein bisschen so wie Cola und Mentos:Jede für sich ist gut, aber wenn man sie mischt, entstehtChaos. Das Problem beginnt schon bei derAnreise. Svenjas goldene Regel: Für Auslandsaufenthalte unterzwei Monaten wird nicht geflogen. Ich finde, ab zwei Wochen Urlaubist alles okay, zahle ich doch – wieich Svenja gern vorhalte – die 7,81 EuroCO -Ablasssteuer mit Vergnügen. Svenjasagt dann: alles Fake.²Svenja ist mit Deutschland, Italienund Frankreich grundsätzlich zufrieden.Ich will, wenn ich schon mal in den Urlaubfahre, auch gern etwas weiter weg.Das war schon früher so, gilt aber erstrecht, wenn man nach zwei Jahrenmehr oder weniger durchgängigem Corona-Lockdownirgendwann wieder unbeschwertverreisen kann. Surfen inPortugal wäre zum Beispiel eine Op tionoder in Israel Falafel essen. Wandernim Allgäu finde ich eher langweilig. Außerdembin ich ein Snob. Wenn ichschon verreise, will ich etwas Komfort.Ich meine, ich lebe 352 Tage im Jahr in einer stinkenden Studierenden-WG!Ich finde es nicht zu viel verlangt, wenigstens zweiWochen im Jahr in einem schönen Airbnb aufwachen zu wollen.Svenja sagt dann: zu teuer. Svenja will in die Natur, Kühe sehen,im Zelt kuscheln. Ich könnte kotzen.Es ist nicht so, dass ich es nie versucht hätte. 2017, für unserenersten gemeinsamen Urlaub, fuhren Svenja und ich an die Ardèche.Kleiner Campingplatz, Geheimtipp von einer Kommilitonin. Geheimtipphieß in diesem Fall, dass das letzte Stück des Wegs keineStraße mehr war, sondern eine hinterhältige, gemeine, steil abwärtsführende Schotterpiste. Alle zwei Minuten kam uns ein Renaultmit oberkörperfreien Franzosen entgegen. Die Straße war eng.Die Schlucht zu unserer Rechten war tief.Etwa jede Minute kratzten Felsbrocken an den Unterbodenmeines Ford Fiesta, Baujahr 2005. Ich schaute jedes Mal angsterfülltauf den Tankanzeiger. Hoffentlich bleibt der Tank dicht, dachteich. Der Tank blieb dicht. Ich nicht: Am ersten Abend bekamich Magen-Darm, hockte nachts zwischen zwölf und sechs Uhrauf dem Klo, das in unserem Geheimtipp-Campingplatz aus einemLoch im Boden bestand, 20 Minuten bergauf von unserem Zeltentfernt. Ich kotzte, diesmal wirklich.Nach fünf Tagen »Urlaub« war ich völlig am Ende. Der Besitzerdes Campingplatzes hatte mir in Nacht vier um fünf Uhrmorgens beim Toilettengang zugehört. Durchfall war eine Untertreibung.Als ich das Toilettenhaus verließ, schaute er mich mitleeren Augen an. Ich muss ihm sehr leidgetan haben. Am nächstenTag beschlossen wir, früher nach Deutschland zurückzufahren.Dort angekommen, bemerkte ich, dass wir dank französischerMaut gut 500 Euro für fünf Nächte Scheißen ausgegeben hatten.Nie wieder Campen (und nie wieder Frankreich), schwor ichmir, also fuhren Svenja und ich im nächsten Jahr nach Lissabon.Das heißt: Ich flog, und sie fuhr Bahn. Zu meiner Verteidigungmuss ich sagen, dass sie eine Woche früher da sein wollte, um inder Algarve wandern zu gehen. Außerdemwar der Flug mit 110 Euro deutlichgünstiger als das Interrail-Ticket für 170Euro zuzüglich Reservierungen.Als ich sie nach der Rückreise –für die ich drei Stunden und sie zweiTage brauchte – vom Bahnhof in Freiburgabholte, war Svenja klebrig undroch so, wie man nach zwei Tagen Zugdurch Portugal, Spanien und Frankreichriecht. Aber ihre Augen zeugten vonmoralischer Überlegenheit, das mussteich ihr lassen, als ich sie abholte.Manchmal glaube ich aber auch,dass Svenja ihre CO ²-Bilanz einfachoutsourct. Da war ihr Auslandsstudiumin Vancouver, 2018 bis 2019. Nein, siekönne mich leider nicht an Weihnachtenbesuchen, ließ sie mich wissen. Für zwei Wochen im Dezembernach Deutschland fliegen? Das geht gar nicht! Wäre doch klimaschädlichund übertrieben. Übrigens, Fabian, die Spanier hier ander Uni sind sooo süß, Salva zum Beispiel. In Portland hätte ermich fast geküsst. Also musste ich nach Vancouver fliegen, fürzwei Wochen nach Weihnachten, mit erstaunlich wenig Gegenredevon Svenja. Den Flug habe natürlich ich gezahlt.In der Air-France-Maschine von Paris nach Vancouver bekamich die Grippe. Svenja erwartete mich mit Sushi am Flughafen. Wirküssten uns. Drei Tage später verschlief ich zum ersten Mal in meinempostpubertären Leben Silvester. Ich frage mich manchmal, warum dasalles? Dann flog ich Anfang Januar 2019 über Grönland zurück nachDeutschland. Das Eis schmilzt. Die Meeresspiegel steigen. Menschenwerden sterben, leiden, flüchten. Ich trank den Whiskey in der Boeing777 aus, der Steward hatte ihn mit doppeltem Eis serviert. Ich schaute»Crazy Rich Asians«. Ich weiß, dass Svenja recht hat. Aber küss bittenicht Salva, dachte ich. Und komm mich besuchen, an Ostern.56 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021
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