SPIEGEL START 01/2021
Das Magazin für Uni und Arbeit SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre. Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund. Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
Das Magazin für Uni und Arbeit
SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre.
Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund.
Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
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POLITIK, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
ökonom Rothgang. »Die Pflegekräfte
vermissen den Stallgeruch.«
Diesen Stallgeruch verspricht
der Bochumer Bund,
eine im vergangenen Jahr gegründete
Pflegegewerkschaft.
Ihr Name lehnt sich nicht zu -
fällig an die erfolgreiche Ärztegewerkschaft
Marburger Bund
an. »Ich war 25 Jahre bei der
ÖTV und dann bei Ver.di«, erzählt
Heide Schneider, eine der
beiden Vorsitzenden und seit
mehr als 30 Jahren als Pflegerin
tätig. »Aber deren Tarifabschlüsse
sind seit Jahren bescheiden
und gleichen kaum die Inflation
aus. Als sie wieder einmal einen
für mich sehr wichtigen Punkt
in den Verhandlungen für einen
anderen fallen gelassen haben,
habe ich gesagt: Jetzt reicht es.«
Nur dem Berufsstand verpflichtet,
will der Bochumer Bund
schlagkräftiger sein als Ver.di.
»Unser Tarifvertrag wird besser
sein als der des öffentlichen
Dienstes«, verspricht Schneider.
Bis dahin ist es allerdings
noch ein weiter Weg. Gerade
einmal knapp 1600 Mitglieder
zählt der Bochumer Bund
Schneider zufolge nach einem
Jahr, davon deutlich mehr aus
der Kranken- als aus der Altenpflege.
Um neue Mitglieder zu
werben, bleibe nur Mundpro -
paganda, sagt Schneider. Ein
Selbstläufer sei das nicht. »Es fehlt das Bewusstsein, dass man
selbst etwas durch Kampf verändern kann.«
Das hat viele Gründe. In der ambulanten Altenpflege arbeiten
fast nur Frauen – viele davon in Teilzeit, morgens und abends,
wenn die Pflegebedürftigen sie brauchen. Oftmals ist das ein
schlecht bezahlter, aber dennoch notwendiger Zuverdienst, den
die Pfleger:innen auf keinen Fall verlieren möchten. Sie fühlen
sich alles andere als mächtig.
Hinzu kommt, dass ein harter Arbeitskampf mit Streiks vielen
Pflegekräften moralisch und emotional unmöglich erscheint. Aus ihrer
Sicht würden sie die Bedürftigen im Stich lassen, zu denen sie
oft über Jahre ein enges Verhältnis aufgebaut haben. Von einem
»Moment der emotionalen Erpressung« spricht Gewerkschafterin
Schneider, den auch Arbeitgeber:innen gern ausnutzen. Ein Autowerk
kann man ohne schlechtes Gewissen zum Stillstand bringen –
aber nicht einen alten, hilflosen Menschen sich selbst überlassen.
Beruflichen Aufstieg erleichtern
Nicht zuletzt fehlt es in der Altenpflege schlicht am Kollektiv -
bewusstsein, das Belegschaften in der Industrie oft haben. Die ver -
schie denen Qualifikationsniveaus, die unterschiedlichen Träger, die
vielen Kleinbetriebe – all das trägt zur Vereinzelung bei. Zuletzt wurde
in Schleswig-Holstein und Niedersachsen gar die Auflösung von
Pflege kammern beschlossen. Diese waren erst vor wenigen Jahren
ge gründet worden. Doch die Pfleger:innen stimmten klar für die Auf -
lö sung – auch aus Protest gegen Zwangsmitgliedschaft und -beiträge.
»Sie haben in der Pflege überspitzt gesagt bald mehr Berufsverbände
als Mitglieder«, sagt Gesundheitsökonom Rothgang.
»Die Branche ist zersplittert, und niemand gönnt dem anderen etwas
– das ist fürchterlich.«
Dass sich in der Pflege
dennoch etwas tut, sollen Mitarbeiter:innen
spätestens am
1. September 2022 merken.
Von dem Datum an gelten laut
Spahns Gesetz Tariflöhne. Ein
Pflegedienst wie Leusbrock
soll sie genauso zahlen wie
Altenheime in der Hand großer
Ketten. Der Minister hofft,
dass die neuen Regeln der Anfang
für regelmäßige Lohnund
Tarifsteigerungen sind.
»Die Pflegekräfte sitzen am längeren
Hebel.«
Die Politik schubst die Pfleger:innen
also in Richtung von
Tarifverhandlungen, auf dass
sie künftig um ihre Bezahlung
kämpfen. Die Arbeitnehmer: -
innen aber schauen laut der Umfrage
von Politologe Schroeder
in eine andere Richtung: 87 Prozent
sagten, der Staat müsse
etwas an den Zuständen ändern,
der Arbeit geber oder Arbeitnehmervertretungen
wurden deutlich
seltener genannt.
Die Pflege wird eine Branche
mit erhöhtem Betreuungsbedarf
bleiben. Schon wegen
der Frage, nach welchen Tarifverträgen
sich künftig denn die
Bezahlung richten soll. Gewerkschafter:innen
fürchten, dass
Arbeitgeber:innen mit Kleinstgewerkschaften
Dumpingverträge
schließen könnten.
Unternehmer Leusbrock sagt, er habe keine Probleme mit
höheren Löhnen. Kürzlich hat er mit der Pflegekasse verhandelt
und kann jetzt ein deutlich erhöhtes Einstiegsgehalt von 3400
Euro zahlen – mehr als den Tariflohn. Die bessere Bezahlung wurde
bei der Refinanzierung berücksichtigt. Dennoch bleibe der Bereich
Pflege im Unternehmen insgesamt defizitär, sagt Leusbrock.
Von Gewinnen könne keine Rede sein.
Allein mit höherer Bezahlung werden die Probleme der Pflegebranche
ohnehin nicht zu lösen sein. Umfragen zeigen immer
wieder, dass Pfleger:innen besonders unter Arbeitsbelastung und
Personalmangel leiden. Auch deshalb plädieren Branchenvertreter:innen
dafür, den beruflichen Aufstieg zu erleichtern. »Bei der
Weiterbildung von ungelernten und teilqualifizierten Kräften gibt
es ein großes Potenzial«, sagt AGVP-Vertreterin Halletz. Ökonom
Rothgang kritisiert, dass Pflegekammern bislang nur Fachkräfte
als Mitglieder akzeptieren. »Da zeigt sich auch ein gewisser Dünkel
gegenüber Assistenzkräften.«
Den scheint Philipp Leusbrock nicht zu haben. »Wir haben
eine Pflegehilfskraft, die steckt jede Fachkraft in die Tasche«, erzählt
er. »Die verdient genauso viel.« Sein eigenes Gehalt liege
wiederum nicht allzu weit über dem der Mitarbeiter:innen. Das
habe er auch gemerkt, als es um einen Kredit für die Pflege-WG
des Unternehmens ging. »Da hat die NRW-Bank meine Geschwister
und mich geprüft und gesagt: Eigentlich verdient ihr ja zu
wenig für so ein Bauvorhaben.«
Das sei okay, sagt er. »Man entscheidet sich nicht dafür, weil
man damit mega viel Geld macht.« Sollten Pflegeunternehmen
nach den Tarifen aber auch noch die Renditen vorgeschrieben
werden, will er sich aus dem Beruf verabschieden, den er seit der
Kindheit kennt. »Dann würde ich das nicht mehr machen.«
Nr. 1 / 2. 10. 2021 SPIEGEL START 55