SPIEGEL START 01/2021
Das Magazin für Uni und Arbeit SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre. Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund. Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
Das Magazin für Uni und Arbeit
SPIEGEL START ist der Begleiter für Studierende auf ihrem Weg zum ersten Job und richtet sich an junge Leute unter 30 Jahre.
Bei SPIEGEL START steht der Mensch im Mittelpunkt: Themen wie z.B. Partnerschaft und Familie, Arbeitswelt, das Erreichen individueller Ziele und Lebensträume stehen im Vordergrund.
Die erste Ausgabe erscheint am 02.10.2021. Ab 2022 erscheint SPIEGEL START vier Mal im Jahr.
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ALLTAG UND BEZIEHUNG
MARIE NASEMANN UND
SEBASTIAN TIGGES
Sie, Jahrgang 1989, ist Model, Schauspielerin (unter anderem »Bella
Germania«) und Buchautorin (»Fairknallt – Mein grüner Kompromiss«).
Sie bezeichnet sich selbst als »Sinnfluencerin«, auf Instagram
und in ihrem Blog Fairknallt.de setzt sich Nasemann mit den Produktionsbedingungen
in der Textilbranche auseinander und bewirbt nachhaltige
Mode. Bekannt wurde sie durch ihre Teilnahme bei »Germany’s
Next Topmodel« im Jahr 2009.
Er, Jahrgang 1984, ist Anwalt und Gründer. Er stand nicht in der Öffentlichkeit
– bis Nasemann und Tigges ihren Podcast »Drei ist ’ne
Party« veröffentlichten. Darin sprechen die beiden über ihre Beziehung
und das Leben als Familie: Im vergangenen Jahr bekamen sie
einen Sohn.
geburt beschleunigen«, »klinische Ausschabung«. Es
drang nichts durch.
NASEMANN: Ich war sehr überrumpelt und
hatte nicht damit gerechnet, dass mich so ein Schicksal
treffen könnte. Ich fühlte mich jung, gesund, vital und
dachte, Fehlgeburten passieren eher bei Risikoschwangerschaften
oder bei Frauen ab 35. Die Ärztin gab mir
dann noch eine Packung Tabletten, die die natürliche
Fehlgeburt durch Wehen einleiten sollten. Kurz danach
standen wir wieder auf der Straße. Es war kein Raum
da für den Schock. Auf dem Ultraschallbild war nichts
mehr zu sehen, gleichzeitig bekam ich die Information,
dass da aber noch etwas in mir drin sei und dass das
schnell rausmüsse.
TIGGES: Die Ärztin hatte uns auch nicht gesagt,
dass Frauen in dieser Situation eine Hebamme zusteht,
die die natürliche Fehlgeburt begleitet. Eine Seelsorgenummer
bekamen wir auch nicht. Wir hatten das
Gefühl, dass wir allein zurechtkommen müssen.
SPIEGEL: Wie ging es für Sie nach dem
Termin bei der Frauenärztin weiter?
NASEMANN: Ich vertraute mich engen
Freund:innen und meiner Familie an. Ich wollte aber
gleichzeitig auch niemanden runterziehen und Freundinnen,
die selbst gerade mit der Familienplanung
angefangen hatten, keine Angst machen. Ich fühlte
mich sehr allein. Währenddessen zeigten die Tabletten
zur Herbeiführung der Wehen keine Wirkung. Nach
einer Woche bekam ich eine Ausschabung, unter Vollnarkose.
Bei einer Ausschabung wird die Schleimhaut der Gebärmutter
entfernt. Nach Fehlgeburten lässt sich so sicherstellen,
dass keine Gewebereste in der Gebärmutter
zurückbleiben. Die Schleimhaut kann sich nach dem
Eingriff wieder aufbauen und der natürliche Zyklus
wieder einsetzen. Eine Ausschabung gilt unter Me -
diziner:innen als Routineeingriff – viele Frauen empfinden
anders.
SPIEGEL: War Ihnen bewusst, dass eine
Fehlgeburt – gerade in den ersten
Schwangerschaftswochen – tatsächlich
sehr häufig passiert?
TIGGES: Klar, wir wussten schon: Das kann
passieren. Aber es war für uns sehr abstrakt. Wir dachten:
Eine Fehlgeburt zu haben ist so unwahrscheinlich,
wie eine seltene Krankheit zu bekommen. Man könnte
jetzt sagen: Es liegt an uns, dass wir uns nicht schon
beim po sitiven Schwangerschaftstest eingelesen haben,
uns mit einer möglichen Fehlgeburt auseinandergesetzt
haben.
NASEMANN: Aber wieso in etwas einlesen,
von dem man denkt, es sei extrem selten? Uns hat nie
jemand darauf angesprochen, auch unsere Frauenärztin
nicht. Wie häufig Fehlgeburten vorkommen, wurde
mir erst bewusst, als ich später googelte und unendlich
viele Foren fand, in denen Frauen anonym von ihren
Fehlgeburten erzählen. Auch deswegen wollte ich mit
meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, um
mich und andere von diesem vermeintlichen Stigma
zu befreien.
SPIEGEL: Von welchem Stigma sprechen
Sie?
NASEMANN: Eine Fehlgeburt wird gesellschaftlich
nicht als etwas Natürliches behandelt, das
zum Kinderkriegen genauso dazugehört wie eine
Schwangerschaft oder eine Geburt. Ich möchte, dass
lockerer darüber gesprochen wird. Und so traurig die
Erfahrung sein kann: Eine Frau, die eine Fehlgeburt
erlebt hat, ist kein Opfer, das nur noch mit Samthandschuhen
angefasst werden darf.
Ich wollte in dieser Situation Trost, klar, aber ich
wollte trotzdem weiterhin zum Kreis der werdenden
Eltern dazugehören. Die Fehlgeburt aber stand in vielen
Momenten wie ein großer Elefant im Raum, man
lavierte um das Thema herum, schwieg es tot. Erst
Monate später begriff ich, wie gut es mir tat, das Thema
in normale Gespräche miteinzubinden. Leider gehen
viele Menschen davon aus, dass eine Frau, die
eine Fehlgeburt erlebt hat, etwas falsch gemacht hat,
nicht gesund ist oder sich nicht an bestimmte »Schwangerschaftsregeln«
gehalten hat. Das ist fatal, hier fehlt
es an Aufklärungsarbeit.
SPIEGEL: Wie ging es Ihnen in den ersten
Wochen danach?
TIGGES: Wir erzählten nur den sehr wenigen
engen Freund:innen und Familienangehörigen, die
schon von der Schwangerschaft wussten, von der Fehlgeburt.
Die meisten nahmen Anteil, boten ihre Hilfe
an. Von einigen erfuhren wir, dass sie auch mal eine
Fehlgeburt erlebt hatten. Wir waren erstaunt, wie
viele Geschichten wir im Nachhinein zu dem Thema
hörten. Da merkten wir: Es hätte uns in der gemeinsamen
Verarbeitung sehr geholfen, wenn wir vorher
schon mit dem Thema in Berührung gekommen
wären.
NASEMANN: Ich empfand vieles, was Leute
im Nachgang zu mir sagten, als verletzend: »Das war
doch nur ein Zellhaufen«, »das war doch kein richtiges
Kind«, »beim nächsten Mal klappt’s schon«. Jemand
meinte, unsere Indienreise in den ersten Wochen der
Schwangerschaft sei vielleicht etwas sehr stressig gewesen.
Die Kiste in meinem Kopf, in der sich mein
schlechtes Gewissen befindet, öffnete sich kurz. Ich
habe sie aber gleich wieder bewusst geschlossen. Damit
wollte ich gar nicht erst anfangen.
Die Gründe für Fehlgeburten sind vielfältig, die Ursache
lässt sich häufig nicht klären. Risiko faktoren sind Fehlbildungen
des Embryos oder der Gebärmutter, Chromosomenauffälligkeiten,
hormonelle Störungen oder
Autoimmunerkrankungen. Forscher:innen vermuten
72 SPIEGEL START Nr. 1 / 2. 10. 2021