NATUR | Norwegen In der nasskalten Luft schwingt der Geruch von Hering mit. Mantelmöwen und braungraue Skuas ziehen kreischend ihre Kreise über dem eisigen Fjord. Immer wieder stürzt ein Vogel herab und schnappt sich einen Fisch – oder das, was davon übrig ist. Der Himmel ist wolkenverhangen und die Berggipfel rechts und links des Meeresarms verschwinden in dichtem Nebel. Doch die trübe Aussicht über unseren Köpfen interessiert uns nicht. Unser Fokus liegt auf dem, was unter unserem Schlauchboot, unter der Wasseroberfläche, zu sehen ist. Wir blicken auf die Überreste einer Party. Einer Party, zu der wir zu spät sind dieses Mal. Das tintenblaue Meer funkelt. Wie glitzerndes Konfetti treiben unzählige silberne Schuppen durch das klare Wasser. Es sind die Schuppen von Heringen, die sich in den Wintermonaten in die Tiefen der norwegischen Fjorde zurückziehen. Es sind Millionen, vermutlich Milliarden Fische, die in der Dunkelheit gut 300 Meter unter der Meeresoberfläche ausharren und im Nordmeer, zwischen dem Arktischen Ozean und dem Nordatlantik, überwintern. Diese Ansammlung von Beutefischen lockt äger auf den Plan: wergwale, Finnwale, Buckelwale, aber vor allem Orcas. Die schwarz-weien ahnwale stehen an der Spitze der Nahrungskette. An der zerklüfteten Küste Norwegens haben es die intelligenten Meeressäuger nur auf eines abgesehen: fette Heringe. Aufgrund der Wintermigration der Schwarmfische stehen zwischen nde Oktober und Februar die Chancen gut, die maestätischen Schwertwale in ihrem Element zu erleben. Und so sitze ich in einem dicken Neoprenanzug, mit Maske auf der Nase auf der Bordwand des Schlauchboots und stiere auf das glitzernde Meerwasser. Die silbrigen Schuppen signalisieren, dass hier vor wenigen Minuten noch Orcas waren. Die Wale treiben die Heringe zu einem »Baitball« zusammen, bis die Fische eine dicht gedrängte Kugel bilden. Immer wieder schwimmen sie um dieses Fischkarussell herum, bis sie mit ihrer Fluke zuschlagen und so mehrere Heringe außer Gefecht setzen. Danach picken sie sich einzelne Fische heraus. Am Vorabend bin ich mit knapp 20 anderen Wal-Enthusiasten aus der ganzen Welt in Tromsø an Bord des peditionsschiffs »Strnstad« gegangen, um eine Woche lang auf Orca-Safari zu gehen. Die Crew macht keine Versprechungen, sondern betont, dass das Wohlergehen der Wale Priorität hat. s werden keine iere geagt, beim Schlafen gestört oder bedrängt. Die Aussage beruhigt mich. Natürlich wollen wir Wale sehen, aber nicht um jeden Preis und schon gar nicht auf Kosten der Tiere. Abenteuer wie diese sind immer auch ein bisschen Glücksspiel. Selbst wenn die Aussichten Anfang November sehr gut sind, Wale zu sehen – sicher sein kann man sich nie. Wir befinden uns knapp Kilometer nördlich des Polarkreises. In den ersten Novemberwochen sind die Lichtverhältnisse noch akzeptabel. war wandert die Sonne nicht mehr zum enit, aber für ein paar Stunden schenkt sie noch gedämpftes ageslicht. In den Tagen zuvor wurden viele Orcas gesichtet. Unsere Erwartungen sind dementsprechend hoch, auch wenn es keine Garantie gibt. Die Natur folgt ihren eigenen Regeln. Nicht nur die Anwesenheit der Meeressäuger selbst, auch die Witterungsbedingungen am Rande des Nordatlantiks können schnell umschlagen. Bei zu starkem Wind oder Schneefall wird es fast unmöglich, Wale zu erspähen. Die »Strønstad« ist für die kommenden Tage unsere Homebase. Mit ihr fahren wir von Tromsø aus gen Norden und sind so fleibler als stationäre Walbeobachtungsboote. Entdecken wir Wale, besteigen wir eines der beiden wendigen odiacs, die das Schiff im Schlepptau hat. Der agesablauf ist stets gleich strukturiert: Noch vor Sonnenaufgang aufstehen, frühstücken, rein in die Tauchausrüstung und ab in die Schlauchboote, um mit Beginn der Dämmerung auf dem Meer zu sein. Mit aucherflasche zu tauchen ist verboten, Freitauchen ist erlaubt. Die meisten Waltouristen schwimmen oder schnorcheln in wasserdichten rockentauchanzügen, worin sich die Kälte besser aushalten lässt. Dunkelheit und Kälte sind die gröten Herausforderungen auf diesem Trip. Die Lufttemperaturen schwanken zwischen minus zwei und plus drei Grad. Das Wasser hat erfrischende vier Grad. »Es ist wichtig, dass ihr alle einmal eure Ausrüstung testet, bevor wir rausfahren. Ihr müsst das Wasser erfühlen und wie ihr aus dem Boot aus und wieder einsteigt«, sagt Asbrn Lausten. Der Däne ist der leitende auchguide und schaut aufmerksam zu, wie wir nacheinander in voller Montur unsere arktische Wasserprobe machen. Seit mehr als zehn Jahren ist Asbjørn jeden Winter in den norwegischen Fjorden auf der Suche nach Orcas. Er kennt die Gewässer und wei, wie er das erhalten der Wale deuten muss. Asbjørn hat in seinem Leben schon Tausende Orcas gesehen. »Diese Tiere sind so faszinierend und sehr intelligent. Auf jeder Tour lerne ich wieder was Neues über sie«, sagt er. »Dieses Jahr ist eine besonders gute Saison. Es gibt viele Heringe und es halten sich Hunderte Wale in den Fjorden auf.« Die trübe Wetterprognose bewahrheitet sich: Die Wolkendecke hängt tief, als wir dicht gedrängt im Schlauchboot sitzen und Ausschau halten. Seit Stunden fahren wir umher. Der kalte Wind beißt im Gesicht. Füße 54 <strong>reisen</strong> <strong>EXCLUSIV</strong> herbst <strong>2023</strong>
Strahlende Gesichter trotz Kälte: Devon und Tochter Lola sind aus Hongkong angereist, um Orcas in freier Wildbahn zu beobachten. Dunkelheit und Kälte sind die größten Herausforderungen. sommer <strong>2023</strong> <strong>reisen</strong> <strong>EXCLUSIV</strong> 55