NATUR | Norwegen Walheimat: Neben Orcas sagen Buckelwale auch »hi«! 56
Asbjørn Lausten weiß, dass man bei der Suche nach Orcas viel Geduld und Ruhe braucht. Seit mehr als zehn Jahren begleitet der Däne Walexkursionen im Nordmeer. Und genau so ist es, als ich nach unten blicke. Ich bin fassungslos. Das Blau unter mir brodelt silbern. Tausende Heringe winden sich dicht gedrängt unter mir. Instinktiv schwimme ich zur Seite weg. Der Baitball hat einen Durchmesser von zehn bis 15 Metern. Vor lauter Heringen sehe ich nichts und ich versuche eilig, Distanz zu schaffen. Die wahre Action findet ohnehin am Rand des Baitballs statt. Nach ein paar Metern beruhigt sich das Wasser unter mir und ich beobachte mit Abstand das Heringsgetümmel. Ein Orca schnappt sich einen der Fische und dreht ab. Während ich versuche, ruhig durch meinen Schnorchel zu atmen, verfolge ich durch meine Maske die Jagdszenen unter mir. Dann hebe ich den Blick. Etwa 200 Meter westlich von mir taucht ein Buckelwal ab. Ich schwimme weiter vom Baitball weg und schaffe noch mehr Distanz, um das Spektakel besser sehen zu können. In etwa Metern iefe blitzen die weien Seitenflossen des Buckelwals im dunklen Blau unter mir. Ihn zieht es zu den Heringen. Ich tauche auf. Denn ich will unbedingt sehen, wie dieser riesige Bartenwal mit geöffnetem Maul aus dem Wasser schießt und Tausende Heringe verschlingt. Der Anblick ist überwältigend. Alles geschieht in Sekunden. Adrenalin durchströmt meinen Körper. Ich tauche ab und sehe gleich mehrere weie Seitenflossen Richtung Baitball steuern. Ein Orca-Weibchen folgt den Giganten und versucht, ihnen in die Fluke zu zwicken, um sie zu vertreiben. Schließlich haben die Schwertwale hier die ganze Arbeit geleistet und jetzt verspeisen die Buckelwale das Buffet. Die Mühen des Orca-Weibchens sind vergebens: Fast parallel pflügen drei Buckelwale durch die Heringe und schöpfen die Fische ab. Mit prall gefüllten Kehlsack tauchen sie davon. Ich sehe, wie einer der Buckelwale unter mir hinwegtaucht und das Wasser aus seinem Maul presst. Dann verschwindet er in der Dunkelheit. Sekunden später ist das Schauspiel vorbei. Die Buckelwale sind weg und auch die Orcas. Um uns herum funkelt das Meer wieder, als die silbrigen Schuppen im schwindenden Tageslicht blitzen. Mit breitem Grinsen im Gesicht hieven wir uns zurück ins Schlauchboot. Auch Asbjørn strahlt. Intensive Begegnungen wie diese sind auch für ihn kein Alltag. »Das habt ihr euch verdient«, sagt er stolz, als er das Schlauchboot Richtung Strønstad steuert. »Ihr habt heute nicht aufgegeben und der Kälte getrotzt. Ihr hättet lanund Hände werden langsam taub. Seit knapp zwei Kilometern begleiten wir zwei Bullen. Sie folgen in großem Abstand ihrer Familie. Sobald sie Heringe gefunden haben, schließen sie sich zusammen und jagen gemeinsam. Asbjørn ist hoch konzentriert. Er ermahnt uns, aufmerksam zu sein und keinen Lärm zu machen, das mögen die Wale nicht. Die Minuten vergehen und wir sehen nichts. Nur Berge, Wasser, Wolken. Aber wir geben nicht auf. Als Asbjørn fragt, ob jemand zurück auf die Strønstad möchte, um sich aufzuwärmen, schütteln alle mit dem Kopf. s herrscht ein stillschweigendes inverständnis: Solange Tageslicht ist, bleiben wir draußen. Asbjørn scannt den Himmel. Ein paar Raubmöwen k<strong>reisen</strong> keine Meter von uns. in gutes eichen. nd dann sind sie da: berall durchschneiden plötzlich schwarze Rückenflossen die Wasseroberfläche, tauchen ab und wieder auf. Mit offenen Mündern beobachten wir das Schauspiel: Neugierig schwimmen die Wale um und unter unserem Boot hindurch, um wenige Meter dahinter wieder aufzutauchen. In einem Radius von 300 Metern zähle ich wenigstens Orcas, darunter auch vereinzelt die kleinen Rückenflossen von Kälbern. Ihre Brust ist noch nicht strahlend weiß, sondern hat einen leicht orangefarbenen Schimmer ein eichen, dass sie noch nicht mal ein Jahr alt sind. Ich bin vollkommen fasziniert und überhöre fast, als Asbrn sagt: »Okay. Ihr könnt rein. Gleitet langsam ins Wasser.« Wie automatisch schwinge ich meine Flossen über die Gummiwand. Das salzige Wasser ist kalt. Meine Sinne sind hellwach. Ich hole tief Luft und tauche ab – in eine andere Welt. Die blaue Endlosigkeit unter mir ist lebendig. Immer wieder geraten Orcas in mein Sichtfeld. Ich sehe die Tiere nicht nur, ich höre sie auch. Lautstarkes Klicken und Fiepen schallt durch das Wasser. Eine kleine Gruppe schwimmt langsam an mir vorüber und mustert mich neugierig. Ein junger Bulle dreht sich nur wenige Meter von mir auf die Seite und sieht mich an. Er nimmt mich nicht nur wahr, er betrachtet mich. Ich kann die Intelligenz in seinem Blick sehen. Für einen kurzen Moment blicken wir uns in die Augen und es ist, als ob die eit stillsteht. Dann schliet er sich wieder der Gruppe an und weg sind sie. Ich tauche auf, hole Luft. Wow Aber es ist noch nicht vorbei. Während ich mich neu orientiere, sehe ich überall schwarze Schwerter. Ich schnorchle ein paar Minuten und begebe mich schlielich wieder unter die Wasseroberfläche, will den Lauten der Orcas lauschen. Nach wenigen Sekunden entdecke ich den ersten Wal, dann noch einen und noch einen. Irgendetwas ist im Gange. Die Orcas sind auf der Jagd. Doch Heringe sehe ich keine. Asbjørns Worte vom orabend kommen mir in den Sinn: »s kann passieren, dass du im Wasser bist. Du nimmst den Kopf hoch, holst Luft. Blickst wieder ins Wasser und plötzlich ist ein Baitball unter dir.« herbst <strong>2023</strong> <strong>reisen</strong> <strong>EXCLUSIV</strong> 57