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Walkemühle - Rudolf Giesselmann

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und Führer gedacht.(4) Insgesamt sind seine<br />

Erziehungsziele jedoch nicht nur dieser Absicht<br />

zuzuordnen: “Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit,<br />

sondern Charakterbildung; nicht<br />

alleinige Ausbildung des Verstandes und Gedächtnisses,<br />

sondern Entwicklung aller Seiten,<br />

aller Kräfte, Sinne, Organe, Glieder und guten<br />

Triebe der kindlichen Natur zu einer möglichst<br />

harmonischen Persönlichkeit; nicht Lesen,<br />

Schreiben, Griechisch, sondern Leben lehren."<br />

(5) Auch waren die Schüler den Lehrern nicht<br />

mehr untergeordnet, sondern sollten mit ihnen<br />

auf gleicher Stufe stehen. Es wurde von der<br />

Autonomie der Persönlichkeit des Kindes ausgegangen:<br />

“Wenn es auf seiner Ebene das ist,<br />

was es sein kann, dann muss man ihm die<br />

gleichen Rechte einräumen, die man für sich<br />

selbst in Anspruch nimmt.” (6)<br />

Ludwig Wunder hatte selbst seit 1908 in Bieberstein<br />

eines der Landerziehungsheime geleitet.<br />

Als Lietz 1919 an den Folgen einer Verletzung<br />

starb, die er sich als Kriegsfreiwilliger<br />

zugezogen hatte, übernahm Wunder dessen<br />

Leitung im Landerziehungsheim in Haubinda,<br />

obwohl er sich schon früher mit Lietz verkracht<br />

hatte. Wunders Vorstellungen “über Selbstregierung<br />

und Freiheit der Jugend”(7) waren Lietz<br />

zu weit gegangen.<br />

In Haubinda hörte Wunder jedoch nach kurzer<br />

Zeit wieder auf und begann im Mai 1921, mit<br />

der <strong>Walkemühle</strong> sein eigenes Landerziehungsheim<br />

aufzubauen. Bereits im Oktober<br />

wohnten zehn Schüler in diesem Heim, mit<br />

denen er den Unterricht begann.<br />

Wunder lernte den Göttinger Philosophie-Professor<br />

Leonard Nelson kennen; schon<br />

in Haubinda hatte ihn die dortige Mathematiklehrerin<br />

Minna Specht auf Nelson aufmerksam<br />

gemacht. In seinem Lebenslauf, den<br />

Wunder später beim Regierungspräsidenten in<br />

Kassel einreichte, als es um die Anerkennung<br />

als Versuchsschule geht, schreibt er selbst:<br />

“1922 und 1923 besuchte ich die Vorlesungen<br />

des Philosophen der Universität Göttingen, Prof.<br />

Nelson, über die Kant'sche und Fries'sche Philosophie.<br />

Ich erkannte in den Lehren dieser<br />

Philosophen, namentlich im transzendentalen<br />

Idealismus Kants, diejenige Weltanschauung,<br />

welcher ich von nun an mit allen Kräften dienen<br />

will, um den überall in der Welt herrschenden<br />

Fatalismus, Materialismus und Naturalismus<br />

zu bekämpfen. Ich habe daher mich<br />

und meine Arbeit dem Wiedererwecker dieser<br />

11<br />

Philosophie, dem Philosophen Nelson<br />

untergeordnet.” (8)<br />

Nelson verfolgte die Entwicklung der Landerziehungsheime<br />

mit Interesse. Er hatte Lietz<br />

bereits 1907 in Bieberstein in der Rhön kennen<br />

gelernt und war begeistert: “Es ist wundervoll<br />

hier, und ich bedaure, nicht noch mal in die<br />

Schule gehen zu können. Ich habe verschiedenem<br />

Unterricht beigewohnt, auch dem Religionsunterricht<br />

von Lietz, der ganz famos ist.<br />

Die Jungen sind alle so groß und gesund und<br />

lustig und tätig, dass es eine Freude ist, die<br />

Gesichter und Körper zu beobachten. Alle<br />

gehen mit nackten Beinen und leben ganz in<br />

der Natur. Lehrer und Schüler sind ganz<br />

gleichartig. Es ist alles buchstäblich so in Wirklichkeit,<br />

wie ich es mir geträumt habe.” (9)<br />

Landerziehungsheime entstanden in der Epoche<br />

der streng autoritären, wilhelminischen<br />

Erziehung. In Deutschland betrachtete man<br />

die Kadettenanstalten als Vorbild für die<br />

männliche Erziehung (von der ,weiblichen' Erziehung<br />

zu reden, hielt man damals noch nicht<br />

für nötig), dabei wurde die unbedingte Überlegenheit<br />

des Lehrers und sein Abstand zu den<br />

Schülern als unverzichtbar angesehen. Nelson<br />

verwarf dieses Erziehungssystem der “Methode<br />

der äußeren Disziplin” radikal, da, “je mächtiger<br />

der Staat wird und je tiefer er durch seine<br />

Massenorganisationen in das Leben der einzelnen<br />

eingreift, wir desto dringender solcher<br />

Einrichtungen bedürfen, die die ohnehin<br />

schwachen und furchtsamen Menschenherzen<br />

stärken und stählen, damit sie nicht zu elenden<br />

Werkzeugen im Dienst einer seelenlosen<br />

Staatsmaschine werden.” (10)<br />

In einem Aufsatz schlug er dementsprechend<br />

folgendes vor: “Als mich kurz nach der Revolution<br />

der damalige preußische Kultusminister<br />

Haenisch um Rat fragte, was er angesichts der<br />

trostlosen Finanzlage tun könne, um die notwendigen<br />

Reformen des Bildungswesens<br />

durchzuführen, schlug ich ihm vor, sämtliche<br />

Schulen im Lande ( von der Volksschule bis<br />

zur Universität ) zu schließen. Durch diese<br />

einfache Maßnahme würde er, statt die<br />

Staatskasse mit neuen Aufwendungen zu belasten,<br />

im Gegenteil enorme Geldmittel für sie<br />

freimachen und zugleich einen Aufschwung<br />

des Geisteslebens herbeiführen, der seinem<br />

Namen in der Geschichte Unsterblichkeit sichern<br />

würde.” (11)

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