Walkemühle - Rudolf Giesselmann
Walkemühle - Rudolf Giesselmann
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war ja Schuhmacher - die Brandsohle wäre hin<br />
gewesen.<br />
Betti hatte die Verpflichtung, dafür zu sorgen,<br />
dass die Schuhe genagelt wurden und ließ sich<br />
nicht davon abbringen: ,Das ist die Regel hier,<br />
die Schuhe müssen genagelt werden.’ Dann<br />
kam Minna, die sagte: ,Du willst deine Schuhe<br />
nicht nageln lassen?’ Ich sagte: ,Nein, ich habe<br />
auch einen Grund dafür. Diese Schuhe habe<br />
ich mir vom Munde abgespart, und ich weiß,<br />
wie ein Schuh aussieht, mein Vater hat selbst in<br />
Handarbeit die Schuhe für mich gemacht, und<br />
ich weiß, wenn dieser Schuh genagelt wird,<br />
dann ist er hin, dann kann man ihn wegwerfen.’<br />
Minna sah das ein und sagte: ,Na gut,<br />
dann werden diese nicht genagelt, dann<br />
kriegst du ein Paar Sandalen,’ ein Paar Jesuslatschen,<br />
so mit einem Riemen darüber, ich<br />
sagte: ,Das ist mir hundertmal egal, da kannst<br />
du dreifach Nägel darunter schlagen, aber<br />
meine Schuhe kriegst du nicht!’ So wurde das<br />
gemacht. Minna sah also ein, dass man unter<br />
diese Schuhe nicht solche Nägel schlagen<br />
konnte.<br />
Ich habe viel, viel gekämpft, genau wie auch<br />
einige andere.” (Emmi Gleinig)<br />
Ein weiterer Konflikt<br />
“Das Waschen habe ich als Helferin organisiert.<br />
Alle drei Wochen machten wir das, und da<br />
halfen uns immer zwei, entweder von den<br />
Schülern oder Lehrern, oder von denen, die in<br />
den Werkstätten waren. An einem Nachmittag<br />
wurde zusammen eingeweicht, und am<br />
nächsten Morgen fing man dann in der<br />
Waschküche an, stellte die Maschinen an und<br />
machte Feuer unter dem Kessel, damit das<br />
Wasser heiß wurde. Die zwei mussten dann<br />
helfen, tun, was man gesagt hat: ,Also los,<br />
fangt mal an und wascht mal die Strümpfe,’<br />
oder ,stellt jetzt die Waschmaschinen an’.<br />
Wenn der Riemen kaputt war, oder herunterfiel<br />
- die Waschmaschinen und die Schleuder<br />
wurden ja von Transmissionswellen angetrieben<br />
- dann musste jemand rüber in die<br />
Schlosserwerkstatt, denn wir durften da nicht<br />
ran. Wir wollten sichergehen, und niemand<br />
sollte sich gefährden. Dann bin ich einmal<br />
rüber in die Schlosserei und habe gesagt: ,Bitte<br />
komm rüber, der Riemen ist heruntergefallen.’<br />
Viertelstunde, halbe Stunde, dreiviertel Stunde,<br />
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und der aus der Schlosserei war ja sowieso mit<br />
dem Helfen beim Waschen dran. Ich ging noch<br />
mal rüber und sagte er solle kommen, wir<br />
könnten sonst nicht weitermachen. - Nichts. -<br />
Dann habe ich mal mit Minna Specht gesprochen<br />
und dann kam er endlich: ,Ja, ich<br />
mach’ das mal gerade.’ ,Halt,’ sagte ich, ,du<br />
darfst den Riemen nicht drauf machen, du bist<br />
jetzt hier zur Wäsche. Geh rüber und sag dem<br />
Schlosser, er soll kommen und den Riemen<br />
drauf machen.’ ,Ja, das kann ich aber doch<br />
viel schneller.’ Ich sagte: ,Nein, nein, du bist zur<br />
Wäsche hier, nur zur Wäsche.’ Also, er bibberte,<br />
ich freute mich. Er machte die Erfahrung jetzt<br />
selbst, was es heißt, jemanden zu brauchen,<br />
der einem den Riemen draufmacht.<br />
Das Resultat war: Niemals mehr, solange der<br />
da war, brauchte man auf den zu warten,<br />
wenn der Riemen runter war.<br />
Das sind so die kleinen Sachen, die man aus<br />
der Erfahrung lernt.<br />
Aber Streitereien gab es bei uns eigentlich nicht.<br />
Wir glaubten ja an die Vernunft. Man sagte<br />
dann: ,Hört mal zu, überlegt euch mal, was ihr<br />
sagt und was ihr tut.’ Da kann ein Dritter durch<br />
ein paar ruhige Worte viel helfen.” (Hedwig<br />
Urbann)<br />
Sexuelle Enthaltsamkeit<br />
Und mit eben dieser Vernunft wurden auch die<br />
sexuellen Konflikte behandelt. Das enge Zusammenleben<br />
und die Regel “strengster Enthaltsamkeit”<br />
führte wohl für die meisten zu<br />
Schwierigkeiten, die auch nie offen besprochen<br />
wurden. In den Geschichten, die mir erzählt<br />
wurden, ist es besonders der leise Unterton,<br />
der beschreibt:<br />
“René sagte einmal: ,Zwei Jahre mache ich<br />
das, ohne Zigaretten und Frau.’ ”(Emmi Gleinig)<br />
“Zwischen männlichen und weiblichen Schulmitgliedern<br />
galt strengste Enthaltung. Das war<br />
so selbstverständlich, dass es nie diskutiert<br />
worden ist. Das war ja auch alles von Nelson<br />
vorgeschrieben. Die ganzen erotischen Verwicklungen<br />
haben ja natürlich ein Element des<br />
Unberechenbaren, und das passte in diese rational<br />
auf Durchführung einer Aufgabe geplante<br />
Schule nicht hinein.