Walkemühle - Rudolf Giesselmann
Walkemühle - Rudolf Giesselmann
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waren wir der Meinung: ,Ja, es gibt einen freien<br />
Willen. Alle fünf Teilnehmer sind davon fest<br />
überzeugt.’ Aber schon am Nachmittag hörten<br />
wir es knistern im Gebälk. (Nachmittags<br />
arbeitete man gewöhnlich einzeln oder zu<br />
zweit in Form eines Protokolls die Vormittagsüberlegungen<br />
noch einmal durch; vielleicht<br />
gelang es dabei auch, einen fruchtbaren<br />
Ansatz für die Fortführung der Arbeit am<br />
nächsten Tag vorzubereiten.)<br />
Und dann kam am nächsten Morgen einer der<br />
Teilnehmer mit neuen Argumenten und warf<br />
alles bisherige über den Haufen. Es war in<br />
diesem Fall eine nachdenkliche Frau. Ihre gut<br />
begründeten Gedankengänge weckten bei<br />
dem einen oder andern Mitschüler ein Echo. Er<br />
unterstützte sie, und der Kampf begann von<br />
neuem mit einer Hingabe und Intensität, dass<br />
wir selbst am Schluss der Unterrichtsstunden<br />
nicht davon loskamen und in jeder freien Minute<br />
weiter an unserem Problem bohrten.<br />
Ich habe es noch im Ohr, wenn plötzlich Hans,<br />
der Jurist aus München, unserer Edith, einer<br />
ehemaligen Verkäuferin aus einer englischen<br />
Kleinstadt, zurief: ,Du, Edith, jetzt sehe ich, wo<br />
der Fehler in Deinem Ansatz liegt. Pass auf. Du<br />
denkst ..., aber das stimmt nicht, es ist so....’<br />
Lange haben wir gerade um diese Frage gerungen.<br />
Eines Abends, als Edith wieder einmal mit uns<br />
allen einig war, musste sie sich feierlich verpflichten,<br />
nun fest zu bleiben und uns nicht<br />
durch neue Argumente vom Fortgang unserer<br />
Arbeit abzuhalten. Wir waren fest davon überzeugt,<br />
bei der Weiterarbeit einen Weg zu<br />
finden, der auch ihre, vielleicht tief im Innern<br />
weiter bohrenden Zweifel beheben würde.”<br />
(46)<br />
Ein weiteres Beispiel der gleichen Schülerin:<br />
“Drei Mitglieder unserer Gruppe nahmen sich<br />
eine eigene Arbeit vor: die Ausarbeitung eines<br />
vollständigen Leitfadens für eine Analyse der<br />
politischen Lage. Sie waren ganz erfüllt davon<br />
und trugen uns die Ergebnisse ihrer Untersuchungen<br />
vor. Ich glaube, sie waren brauchbar.<br />
Aber selbst wenn sie sich nicht so vollkommen<br />
erwiesen, wie die drei sie beurteilten - was mich<br />
so beeindruckte, war die Tatsache, dass hier<br />
einige ihrem Wesen und ihrem Beruf nach doch<br />
sehr verschiedenartige Menschen (ein Lehrer,<br />
ein Jurist und ein Ingenieur) zu einer ganz un-<br />
43<br />
gemein intensiven gemeinsamen Arbeit gekommen<br />
waren. Da alle drei recht selbständige<br />
Menschen waren, hätte es nahegelegen,<br />
dass jeder sich berufen gefühlt hätte, sein eigenes<br />
System auszuarbeiten und vorzulegen.<br />
Ich glaube, dass hier ganz besonders die<br />
Schaffung einer geistigen Gemeinschaft geglückt<br />
war.<br />
Die Fähigkeit zu solcher gemeinsamen Arbeit,<br />
sich in sie einzuordnen, ist wohl das wichtigste<br />
Ergebnis der sokratische Arbeit. Daneben steht<br />
der Gewinn eines starken Selbstvertrauens in<br />
die eigene Vernunft: Man merkt, dass man bei<br />
hinreichender Vertiefung und Ehrlichkeit im<br />
Denken, sei es allein, sei es gemeinsam, in<br />
seinem Innern einen ganz erstaunlichen Vorrat<br />
an Erkenntnissen entdecken kann.” (48)<br />
Eine Schülerin schreibt:<br />
“Nelson erschien nicht oft in der ,<strong>Walkemühle</strong>’.<br />
Doch wenn er da war, wirkte er als Lehrer und<br />
Erzieher. So erinnere ich mich eines zehn Tage<br />
währenden Kurses über die Schrift von Friedrich<br />
Engels: ,Die Entwicklung des Sozialismus von<br />
der Utopie zur Wissenschaft’. Die Aufdeckung<br />
der metaphysischen Voraussetzungen der jede<br />
Metaphysik leugnenden Engelsschen Theorie<br />
und die Klarstellung logischer Sprünge gehörte<br />
zum besonders Fesselnden dieser Arbeit. Für<br />
Nelson war es zweifellos eine große Geduldsprobe,<br />
mit uns zu arbeiten, um so mehr, als<br />
gerade in diesem Kursus der Versuch gemacht<br />
wurde, die Schüler auch als Lehrer wirken zu<br />
lassen.<br />
Geduld während solcher Übungen war überhaupt<br />
eine der bemerkenswerten Eigenschaften<br />
Nelsons. Er konnte zehn bis fünfzehn Minuten<br />
und noch länger die Teilnehmer in<br />
Schweigen verharren lassen, ohne von sich aus<br />
den Weg zu zeigen, der aus der Sackgasse<br />
herausführte. Er wartete auf die Initiative der<br />
Teilnehmer, und erst wenn aus diesem Kreis der<br />
Versuch zur Weiterführung der Unterhaltung<br />
unternommen wurde, leitete er sie weiter.<br />
Eine der schönsten sokratischen Übungen erlebte<br />
ich bei Nelson über das Thema<br />
des ,Schönen Seins’ oder des ,Ideals der<br />
schönen Seele’ bei Schiller. An mehreren<br />
Nachmittagen wurde in diesem Kursus die<br />
Entwicklung der Ethik von Kant zu Schiller und<br />
damit die begriffliche Unterscheidung zwischen<br />
Pflicht und Ideal erörtert. Es war für mich