Walkemühle - Rudolf Giesselmann
Walkemühle - Rudolf Giesselmann
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Terror, über das Gute und Schlechte in der Welt gesprochen<br />
wurde. Durch eigenes Zeitunglesen, durch<br />
Tischgespräche oder durch andere zwanglose Unterhaltungen<br />
erfahren die Kinder die wichtigsten tages-politischen<br />
Ereignisse. Politische Bedeutung hatte<br />
auch das Winterfest durch seinen Leitgedanken, sich für<br />
die Unterdrückten einzusetzen. Vom Winterfest mehr an<br />
anderer Stelle.<br />
Die Kinder sind im Ganzen gesehen in recht guter Ve rfassung.<br />
Im Oktober sind sie alle von unserer Vertrauensärztin<br />
untersucht worden; sie sind gesundheitlich alle<br />
in Ordnung. Der Unterricht macht ihnen viel Freude. Sie<br />
sind sehr lernbegierig. Ihr geistiges Leben ist rege. Auch<br />
diejenigen, die sich früher etwas darauf zu Gute taten,<br />
kein Buch in die Hand zu nehmen, lesen jetzt Bücher und<br />
Zeitungen. Sie machen sehr gern zweimal in der Woche je<br />
zwei Stunden Schularbeiten, eine Einrichtung, die wir<br />
etwa Mitte November geschaffen haben. An schularbeitsfreien<br />
Tagen stellen sie oft im Tone des Bedauerns<br />
fest: ,Oh, heute sind ja keine Schularbeiten!’ Nicht nur<br />
das; sie arbeiten auch selbständig an den im Unterricht<br />
aufgetauchten Fragen weiter. Die II. Gruppe hat in ihrer<br />
Freizeit ein sehr nettes Büchlein gedichtet: ,Mathe, der<br />
moderne Held’, in dem sie ihre mathematischen Entdeckungen<br />
in äußerst lustiger Form in eine Geschichte gekleidet<br />
haben.<br />
Selbst auf Peter, unsern Kleinsten, hat das mathematische<br />
Interesse übergegriffen. Das zeigt folgendes Gespräch,<br />
das sich vor einigen Tagen zwischen ihm und<br />
Grete Hermann, Spechts philosophischer Mitarbeiterin,<br />
abspielte:<br />
Begegnung in der Haustür.<br />
“Guten Morgen, Peter.”<br />
Ein kritischer Blick von der Seite.<br />
“Sie haben gesagt, du könntest mir sagen, welches die<br />
größte Zahl ist. Welche ist es?”<br />
“Na Peter, das wollen wir uns gut überlegen. Was meinst<br />
du zu 100?”<br />
“Ach, viel größer! Viel größer noch als eine Million!”<br />
“Dann vielleicht eine Billion?”<br />
Peter nachdenklich:<br />
“Nein, noch viel größer, noch mehr als 90 mal so groß.”<br />
“Dann vielleicht eine Trillion?”<br />
Peter stutzt. Er hat offenbar keine Vorstellung, wie groß<br />
diese Zahl ist und schöpft Hoffnung:<br />
“Ja, vielleicht ist sie es.”<br />
“Na, das wollen wir uns noch genau überlegen.”<br />
Er steht mit krauser Stirn vor Grete und denkt<br />
angestrengt nach. Grete betrachtet ihn von oben:<br />
“Peter, du hast ja ganz schmutzige Ohren. Beide Ohren<br />
sind schmutzig. Such dir mal jemand, der sie dir wäscht.”<br />
“Das kann ich schon ganz allein.”<br />
“Ja, dann um so besser, Peter. Lauf hin und wasch sie<br />
dir.”<br />
“Ja, gleich, aber erst sag mir, welches die größte Zahl ist.”<br />
***<br />
85<br />
Gute Erfolge hat auch der Turnunterricht gehabt. Es<br />
herrscht in den Turnstunden eine straffe - aber keineswegs<br />
stramme, militärische - Disziplin, die vor dem Elterntag<br />
noch nicht da war.<br />
Die politische Lage: Von einer politischen Unruhe ist hier<br />
um uns herum so gut wie gar nichts zu spüren. Die Nazis<br />
treten kaum in Erscheinung. Eine Gefahr von dieser Seite<br />
scheint im Augenblick nicht da zu sein. Eine sehr ausführliche<br />
Schulrevision von Seiten unseres zuständigen<br />
Schulrats deutet eine andere Gefahr an: Gefährdung der<br />
Schule durch den reaktionären Schleicherkurs. Jedoch ist<br />
das nur eine Vermutung, denn eine Revision des Schulrats<br />
ist an sich nichts Außergewöhnliches. Wir gehören<br />
zu seinem Bezirk, und es ist seine Aufgabe, sich zu<br />
vergewissern, ob unser Unterricht die Mindestanforderungen<br />
des gewöhnlichen Volksschulunterrichts erfüllt.<br />
Unser Winterfest war ein schöner Erfolg, von keinem<br />
Misston gestört. Minna Specht hat im “Funken” Nr. 291 v.<br />
8.1.33 einen ausführlichen Bericht darüber geschrieben,<br />
den ihr Euch s icherlich leicht verschaffen könnt. Habt alle<br />
herzlichen Dank für Eure schönen Pakete. Mit besonders<br />
großer Freude wurden die Pakete aufgenommen, deren<br />
Inhalt einen Zusammenhang mit der Idee des Festes hatte.<br />
Aber auch die anderen brachten natürlich Freude, zumal<br />
ihr alle daran gedacht hattet, dass dieses Winterfest ein<br />
Kollektivfest ist, und auch die Kinder dieses Jahr alle zum<br />
ersten Mal mit diesem Gedanken ernst gemacht haben.<br />
Einzelheiten über das Fest der Tiere erfahrt Ihr ja durch<br />
die Briefe Eurer Kinder. Diese Briefe sind schon am 2.<br />
Januar geschrieben. Wir haben sie bis heute liegen<br />
lassen, um sie mit diesem Brief zusammen zu schicken. Ihr<br />
seid also bitte nicht böse darüber, dass die Briefe und der<br />
Dank Eurer Kinder mit etwas Verspätung zu Euch gelangen.<br />
Am 3. Januar begann wieder der regelmäßige Unterricht.<br />
Die Arbeit wurde fortgesetzt, als ob wir gar keine Unterbrechung<br />
gehabt hätten. Das ist ein Zeichen dafür,<br />
dass die Kinder Interesse und Freude an der Arbeit haben.<br />
Wir haben leider schlechtes Wetter hier. So wie wir gutes<br />
Schneewetter haben, machen wir ein paar Tage Wintersportferien.<br />
Unsere Arbeit in der nächsten Zeit geht in der Richtung<br />
weiter, in der sie sich jetzt befindet.<br />
Es grüßt Euch herzlich<br />
Hans Lewinski