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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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<strong>Heinrich</strong>s Mutter gewann sie bald durch ihre gutmütige Bereitwilligkeit und Teilnahme. Man<br />

war erfreut eine Frau aus der Residenzstadt zu sehn, die eben so willig die Neuigkeiten der<br />

Mode, als die Zubereitung einiger schmackhafter Schüsseln mitteilte. Der junge <strong>Ofterdingen</strong><br />

ward <strong>von</strong> Rittern und Frauen wegen seiner Bescheidenheit und seines ungezwungenen<br />

milden Betragens gepriesen, und die letztern verweilten gern auf seiner einnehmenden<br />

Gestalt, die wie das einfache Wort eines Unbekannten war, das man fast überhört, bis längst<br />

nach seinem Abschiede es seine tiefe unscheinbare Knospe immer mehr auftut, und endlich<br />

eine herrliche Blume in allem Farbenglanze dichtverschlungener Blätter zeigt, so daß man es<br />

nie vergißt, nicht müde wird es zu wiederholen, und einen versieglichen immer<br />

gegenwärtigen Schatz daran hat. Man besinnt sich nun genauer auf den Unbekannten, und<br />

ahndet und ahndet, bis es auf einmal klar wird, daß es ein Bewohner der höhern Welt<br />

gewesen sei. – Die Kaufleute erhielten eine große Menge Bestellungen, und man trennte<br />

sich gegenseitig mit herzlichen Wünschen, einander bald wiederzusehn. Auf einem dieser<br />

Schlösser, wo sie gegen Abend hinkamen, ging es fröhlich zu. Der Herr des Schlosses war ein<br />

alter Kriegsmann, der die Muße des Friedens, und die Einsamkeit seines Aufenthalts mit<br />

öftern Gelagen feierte und unterbrach, und außer dem Kriegsgetümmel und der Jagd keinen<br />

andern Zeitvertreib kannte, als den gefüllten Becher.<br />

Er empfing die Ankommenden mit brüderlicher Herzlichkeit, mitten unter lärmenden<br />

Genossen. Die Mutter ward zur Hausfrau geführt. Die Kaufleute und <strong>Heinrich</strong> mußten sich an<br />

die lustige Tafel setzen, wo der Becher tapfer umherging. <strong>Heinrich</strong>en ward auf vieles Bitten<br />

in Rücksicht seiner Jugend das jedesmalige Bescheidtun erlassen, dagegen die Kaufleute sich<br />

nicht faul fanden, sondern sich den alten Frankenwein tapfer schmecken ließen. Das<br />

Gespräch lief über ehmalige Kriegsabenteuer hin. <strong>Heinrich</strong> hörte mit großer Aufmerksamkeit<br />

den neuen Erzählungen zu. Die Ritter sprachen vom Heiligen Lande, <strong>von</strong> den Wundern des<br />

Heiligen Grabes, <strong>von</strong> den Abenteuern ihres Zuges, und ihrer Seefahrt, <strong>von</strong> den Sarazenen, in<br />

deren Gewalt einige geraten gewesen waren, und dem fröhlichen und wunderbaren Leben<br />

im Feld und im Lager. Sie äußerten mit großer Lebhaftigkeit ihren Unwillen, jene himmlische<br />

Geburtsstätte der Christenheit noch im frevelhaften Besitz der Ungläubigen zu wissen. Sie<br />

erhoben die großen Helden, die sich eine ewige Krone durch ihr tapfres, unermüdliches<br />

Bezeigen gegen dieses ruchlose Volk erworben hätten. Der Schloßherr zeigte das kostbare<br />

Schwert, was er einem Anführer derselben mit eigner Hand abgenommen, nachdem er sein<br />

Kastell erobert, ihn getötet, und seine Frau und Kinder zu Gefangenen gemacht, welches ihm<br />

der Kaiser in seinem Wappen zu führen vergönnet hatte. Alle besahen das prächtige<br />

Schwert, auch <strong>Heinrich</strong> nahm es in seine Hand, und fühlte sich <strong>von</strong> einer kriegerischen<br />

Begeisterung ergriffen. Er küßte es mit inbrünstiger Andacht. Die Ritter freuten sich über<br />

seinen Anteil. Der Alte umarmte ihn, und munterte ihn auf, auch seine Hand auf ewig der<br />

Befreiung des Heiligen Grabes zu widmen, und das wundertätige Kreuz auf seine Schultern<br />

befestigen zu lassen. Er war überrascht, und seine Hand schien sich nicht <strong>von</strong> dem Schwerte<br />

losmachen zu können. »Besinne dich, mein Sohn«, rief der alte Ritter. »Ein neuer Kreuzzug<br />

ist vor der Tür. Der Kaiser selbst wird unsere Scharen in das Morgenland führen. Durch ganz<br />

Europa schallt <strong>von</strong> neuem der Ruf des Kreuzes, und heldenmütige Andacht regt sich aller<br />

Orten. Wer weiß, ob wir nicht übers Jahr in der großen weltherrlichen Stadt Jerusalem als<br />

frohe Sieger beieinander sitzen und uns bei vaterländischem Wein an unsere Heimat<br />

erinnern. Du kannst auch bei mir ein morgenländisches Mädchen sehn. Sie dünken uns<br />

Abendländern gar anmutig, und wenn du das Schwert gut zu führen verstehst, so kann es dir<br />

an schönen Gefangenen nicht fehlen.« Die Ritter sangen mit lauter Stimme den<br />

Kreuzgesang, der damals in ganz Europa gesungen wurde:

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