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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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»Wann wird es doch«, sagte <strong>Heinrich</strong>, »gar keiner Schrecken, keiner Schmerzen, keiner<br />

Not und keines Übels mehr im Weltall bedürfen?«<br />

»Wenn es nur Eine Kraft gibt – die Kraft des Gewissens – Wenn die Natur züchtig und<br />

sittlich geworden ist. Es gibt nur Eine Ursache des Übels – die allgemeine Schwäche, und<br />

diese Schwäche ist nichts, als geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der<br />

Freiheit.«<br />

»Macht mir doch die Natur des Gewissens begreiflich.«<br />

»Wenn ich das könnte, so wär ich Gott, denn indem man das Gewissen begreift, entsteht<br />

es. Könnt Ihr mir das Wesen der Dichtkunst begreiflich machen?«<br />

»Etwas Persönliches läßt sich nicht bestimmt abfragen.«<br />

»Wie viel weniger also das Geheimnis der höchsten Unteilbarkeit. Läßt sich Musik dem<br />

Tauben erklären?«<br />

»Also wäre der Sinn ein Anteil an der neuen durch ihn eröffneten Welt selbst? Man<br />

verstünde die Sache nur, wenn man sie hätte ?«<br />

»Das Weltall zerfällt in unendliche, immer <strong>von</strong> größern Welten wieder befaßte Welten.<br />

Alle Sinne sind am Ende Ein Sinn. Ein Sinn führt wie Eine Welt allmählich zu allen Welten.<br />

Aber alles hat seine Zeit, und seine Weise. Nur die Person des Weltalls vermag das Verhältnis<br />

unsrer Welt einzusehn. Es ist schwer zu sagen, ob wir innerhalb der sinnlichen Schranken<br />

unsers Körpers wirklich unsre Welt mit neuen Welten, unsre Sinne mit neuen Sinnen<br />

vermehren können, oder ob jeder Zuwachs unsrer Erkenntnis, jede neuerworbene Fähigkeit<br />

nur zur Ausbildung unsers gegenwärtigen Weltsinns zu rechnen ist.«<br />

»Vielleicht ist beides Eins«, sagte <strong>Heinrich</strong>. »Ich weiß nur so viel, daß für mich die Fabel<br />

Gesamtwerkzeug meiner gegenwärtigen Welt ist. Selbst das Gewissen, diese Sinn und<br />

Welten erzeugende Macht, dieser Keim aller Persönlichkeit, erscheint mir, wie der Geist des<br />

Weltgedichts, wie der Zufall der ewigen romantischen Zusammenkunft, des unendlich<br />

veränderlichen Gesamtlebens.«<br />

»Werter Pilger«, versetzte Sylvester, »das Gewissen erscheint in jeder ernsten Vollendung,<br />

in jeder gebildeten Wahrheit. Jede durch Nachdenken zu einem Weltbild umgearbeitete<br />

Neigung und Fertigkeit wird zu einer Erscheinung, zu einer Verwandlung des Gewissens. Alle<br />

Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freiheit nennen kann, ohnerachtet damit<br />

nicht ein bloßer Begriff, sondern der schaffende Grund alles Daseins bezeichnet werden soll.<br />

Diese Freiheit ist Meisterschaft. Der Meister übt freie Gewalt nach Absicht und in<br />

bestimmter und überdachter Folge aus. Die Gegenstände seiner Kunst sind sein, und stehn<br />

in seinem Belieben und er wird <strong>von</strong> ihnen nicht gefesselt oder gehemmt. Und gerade diese<br />

allumfassende Freiheit, Meisterschaft oder Herrschaft ist das Wesen, der Trieb des<br />

Gewissens. In ihm offenbart sich die heilige Eigentümlichkeit, das unmittelbare Schaffen der<br />

Persönlichkeit, und jede Handlung des Meisters ist zugleich Kundwerdung der hohen<br />

einfachen, unverwickelten Welt – Gottes Wort.«<br />

»Also ist auch das was ehemals, wie mich däucht, Tugendlehre genannt wurde, nur die<br />

Religion, als Wissenschaft, die sogenannte Theologie im eigentlichsten Sinn? Nur eine<br />

Gesetzordnung, die sich zur Gottesverehrung verhält, wie die Natur zu Gott? Ein Wortbau,<br />

eine Gedankenfolge, die die Oberwelt bezeichnet, vorstellt und sie auf einer gewissen Stufe<br />

der Bildung vertritt? Die Religion für das Vermögen der Einsicht und des Urteils, der<br />

Richtspruch, das Gesetz der Auflösung und Bestimmung aller möglichen Verhältnisse eines<br />

persönlichen Wesens?«

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