Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Auge fest am Himmel haftet, so werdet ihr nie den Weg zu eurer Heimat verlieren.« – Sie<br />
trennten sich mit stiller Andacht, fanden bald ihre zaghaften Gefährten, und erreichten unter<br />
allerlei Erzählungen in kurzem das Dorf, wo <strong>Heinrich</strong>s Mutter, die in Sorgen gewesen war, sie<br />
mit tausend Freuden empfing.<br />
Sechstes Kapitel<br />
Menschen, die zum Handeln, zur Geschäftigkeit geboren sind, können nicht früh genug<br />
alles selbst betrachten und beleben. Sie müssen überall selbst Hand anlegen und viele<br />
Verhältnisse durchlaufen, ihr Gemüt gegen die Eindrücke einer neuen Lage, gegen die<br />
Zerstreuungen vieler und mannigfaltiger Gegenstände gewissermaßen abhärten, und sich<br />
gewöhnen, selbst im Drange großer Begebenheiten den Faden ihres Zwecks festzuhalten,<br />
und ihn gewandt hindurchzuführen. Sie dürfen nicht den Einladungen einer stillen<br />
Betrachtung nachgeben. Ihre Seele darf keine in sich gekehrte Zuschauerin, sie muß<br />
unablässig nach außen gerichtet, und eine emsige, schnell entscheidende Dienerin des<br />
Verstandes sein. Sie sind Helden, und um sie her drängen sich die Begebenheiten, die<br />
geleitet und gelöst sein wollen. Alle Zufälle werden zu Geschichten unter ihrem Einfluß, und<br />
ihr Leben ist eine ununterbrochene Kette merkwürdiger und glänzender, verwickelter und<br />
seltsamer Ereignisse.<br />
Anders ist es mit jenen ruhigen, unbekannten Menschen, deren Welt ihr Gemüt, deren<br />
Tätigkeit die Betrachtung, deren Leben ein leises Bilden ihrer innern Kräfte ist. Keine Unruhe<br />
treibt sie nach außen. Ein stiller Besitz genügt ihnen und das unermeßliche Schauspiel außer<br />
ihnen reizt sie nicht selbst, darin aufzutreten, sondern kommt ihnen bedeutend und<br />
wunderbar genug vor, um seiner Betrachtung ihre Muße zu widmen. Verlangen nach dem<br />
Geiste desselben hält sie in der Ferne, und er ist es, der sie zu der geheimnisvollen Rolle des<br />
Gemüts in dieser menschlichen Welt bestimmte, während jene die äußeren Gliedmaßen und<br />
Sinne und die ausgehenden Kräfte derselben vorstellen.<br />
Große und vielfache Begebenheiten würden sie stören. Ein einfaches Leben ist ihr Los, und<br />
nur aus Erzählungen und Schriften müssen sie mit dem reichen Inhalt, und den zahllosen<br />
Erscheinungen der Welt bekannt werden. Nur selten darf im Verlauf ihres Lebens ein Vorfall<br />
sie auf einige Zeit in seine raschen Wirbel mit hereinziehn, um durch einige Erfahrungen sie<br />
<strong>von</strong> der Lage und dem Charakter der handelnden Menschen genauer zu unterrichten.<br />
Dagegen wird ihr empfindlicher Sinn schon genug <strong>von</strong> nahen unbedeutenden Erscheinungen<br />
beschäftigt, die ihm jene große Welt verjüngt darstellen, und sie werden keinen Schritt tun,<br />
ohne die überraschendsten Entdeckungen in sich selbst über das Wesen und die Bedeutung<br />
derselben zu machen. Es sind die Dichter, diese seltenen Zugmenschen, die zuweilen durch<br />
unsere Wohnsitze wandeln, und überall den alten ehrwürdigen Dienst der Menschheit und<br />
ihrer ersten Götter, der Gestirne, des Frühlings, der Liebe, des Glücks, der Fruchtbarkeit, der<br />
Gesundheit, und des Frohsinns erneuern; sie, die schon hier im Besitz der himmlischen Ruhe<br />
sind, und <strong>von</strong> keinen törichten Begierden umhergetrieben, nur den Duft der irdischen<br />
Früchte einatmen, ohne sie zu verzehren und dann unwiderruflich an die Unterwelt gekettet<br />
zu sein. Freie Gäste sind sie, deren goldener Fuß nur leise auftritt, und deren Gegenwart in<br />
allen unwillkürlich die Flügel ausbreitet. Ein Dichter läßt sich wie ein guter König, frohen und<br />
klaren Gesichtern nach aufsuchen, und er ist es, der allein den Namen eines Weisen mit<br />
Recht führt. Wenn man ihn mit dem Helden vergleicht, so findet man, daß die Gesänge der<br />
Dichter nicht selten den Heldenmut in jugendlichen Herzen erweckt, Heldentaten aber wohl<br />
nie den Geist der Poesie in ein neues Gemüt gerufen haben.