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Novalis Heinrich von Ofterdingen Erstausgabe 1802 ... - Germanistik

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Auge fest am Himmel haftet, so werdet ihr nie den Weg zu eurer Heimat verlieren.« – Sie<br />

trennten sich mit stiller Andacht, fanden bald ihre zaghaften Gefährten, und erreichten unter<br />

allerlei Erzählungen in kurzem das Dorf, wo <strong>Heinrich</strong>s Mutter, die in Sorgen gewesen war, sie<br />

mit tausend Freuden empfing.<br />

Sechstes Kapitel<br />

Menschen, die zum Handeln, zur Geschäftigkeit geboren sind, können nicht früh genug<br />

alles selbst betrachten und beleben. Sie müssen überall selbst Hand anlegen und viele<br />

Verhältnisse durchlaufen, ihr Gemüt gegen die Eindrücke einer neuen Lage, gegen die<br />

Zerstreuungen vieler und mannigfaltiger Gegenstände gewissermaßen abhärten, und sich<br />

gewöhnen, selbst im Drange großer Begebenheiten den Faden ihres Zwecks festzuhalten,<br />

und ihn gewandt hindurchzuführen. Sie dürfen nicht den Einladungen einer stillen<br />

Betrachtung nachgeben. Ihre Seele darf keine in sich gekehrte Zuschauerin, sie muß<br />

unablässig nach außen gerichtet, und eine emsige, schnell entscheidende Dienerin des<br />

Verstandes sein. Sie sind Helden, und um sie her drängen sich die Begebenheiten, die<br />

geleitet und gelöst sein wollen. Alle Zufälle werden zu Geschichten unter ihrem Einfluß, und<br />

ihr Leben ist eine ununterbrochene Kette merkwürdiger und glänzender, verwickelter und<br />

seltsamer Ereignisse.<br />

Anders ist es mit jenen ruhigen, unbekannten Menschen, deren Welt ihr Gemüt, deren<br />

Tätigkeit die Betrachtung, deren Leben ein leises Bilden ihrer innern Kräfte ist. Keine Unruhe<br />

treibt sie nach außen. Ein stiller Besitz genügt ihnen und das unermeßliche Schauspiel außer<br />

ihnen reizt sie nicht selbst, darin aufzutreten, sondern kommt ihnen bedeutend und<br />

wunderbar genug vor, um seiner Betrachtung ihre Muße zu widmen. Verlangen nach dem<br />

Geiste desselben hält sie in der Ferne, und er ist es, der sie zu der geheimnisvollen Rolle des<br />

Gemüts in dieser menschlichen Welt bestimmte, während jene die äußeren Gliedmaßen und<br />

Sinne und die ausgehenden Kräfte derselben vorstellen.<br />

Große und vielfache Begebenheiten würden sie stören. Ein einfaches Leben ist ihr Los, und<br />

nur aus Erzählungen und Schriften müssen sie mit dem reichen Inhalt, und den zahllosen<br />

Erscheinungen der Welt bekannt werden. Nur selten darf im Verlauf ihres Lebens ein Vorfall<br />

sie auf einige Zeit in seine raschen Wirbel mit hereinziehn, um durch einige Erfahrungen sie<br />

<strong>von</strong> der Lage und dem Charakter der handelnden Menschen genauer zu unterrichten.<br />

Dagegen wird ihr empfindlicher Sinn schon genug <strong>von</strong> nahen unbedeutenden Erscheinungen<br />

beschäftigt, die ihm jene große Welt verjüngt darstellen, und sie werden keinen Schritt tun,<br />

ohne die überraschendsten Entdeckungen in sich selbst über das Wesen und die Bedeutung<br />

derselben zu machen. Es sind die Dichter, diese seltenen Zugmenschen, die zuweilen durch<br />

unsere Wohnsitze wandeln, und überall den alten ehrwürdigen Dienst der Menschheit und<br />

ihrer ersten Götter, der Gestirne, des Frühlings, der Liebe, des Glücks, der Fruchtbarkeit, der<br />

Gesundheit, und des Frohsinns erneuern; sie, die schon hier im Besitz der himmlischen Ruhe<br />

sind, und <strong>von</strong> keinen törichten Begierden umhergetrieben, nur den Duft der irdischen<br />

Früchte einatmen, ohne sie zu verzehren und dann unwiderruflich an die Unterwelt gekettet<br />

zu sein. Freie Gäste sind sie, deren goldener Fuß nur leise auftritt, und deren Gegenwart in<br />

allen unwillkürlich die Flügel ausbreitet. Ein Dichter läßt sich wie ein guter König, frohen und<br />

klaren Gesichtern nach aufsuchen, und er ist es, der allein den Namen eines Weisen mit<br />

Recht führt. Wenn man ihn mit dem Helden vergleicht, so findet man, daß die Gesänge der<br />

Dichter nicht selten den Heldenmut in jugendlichen Herzen erweckt, Heldentaten aber wohl<br />

nie den Geist der Poesie in ein neues Gemüt gerufen haben.

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